Auf den klingenden Namen "Fluss der Faulheit" hört die Poollandschaft in einem Klubhotel im spanischen Almería. Sie riecht nach Chlor, verfärbt sich vom Urin der Badenden grün, und nachts fischen Hotelangestellte den Dreck der Gäste heraus. Doch für eine Gruppe britischer Urlauber ist es der Sehnsuchtsort des Sommers: "Nein, die maurischen Ruinen haben wir nicht besichtigt." Was sie auf der Busfahrt vom Flughafen in ihr Resort aber gesehen haben, sind die Folientunnel der Gewächshäuser und die in kleinen Booten übers Mittelmeer geflüchteten Afrikaner, die dort arbeiten. Der Erzählerin hauen die Bilder zwar das Wohlgefühl zusammen. Aber nur kurz, denn: "Es war weder mir noch sonst wem von Nutzen, in diesem Moment, während wir in Ferien waren. Denn was glauben wir ... und was glaubt ihr ... und was glauben die, von uns zu verlangen ..."

Der britischen Autorin Zadie Smith gelang mit nur 24 Jahren der große Durchbruch. Seither wiederholt sie sich nicht, neue Kurzgeschichten beweisen das.
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Der Fluss der Faulheit ist eine von 19 Kurzgeschichten in Zadie Smiths neuem Buch Grand Union. Die britische Autorin mit jamaikanischen Wurzeln ist berühmt für ihre multiethnisch angelegten, soziale und kulturelle Vielfalt einfangenden Romane. Schon mit dem ersten, Zähne zeigen, ist Smith 2000 schlagartig international berühmt geworden. Fragen nach Herkunft und Identität dröselte sie auch in London NW oder Swing Time als Geschichten über Familien oder Freunde auf. Zuletzt erschienen vergangenen Herbst unter dem Titel Betrachtungen Essays, angeregt vom Leben in der Corona-Krise. Grand Unionist allerdings Smiths erster Erzählband. Dabei standen Erzählungen ganz am Anfang ihres Schreibens: An ihnen reizt Smith, dass sie als Autorin schnell zwischen Milieus und Plots wechseln kann und dass ihre Leser sich ebenso oft umstellen müssen.

Puppenspieler und Dragqueen

Das gilt auch jetzt. Zwar ziehen sich Feminismus, Rassismus und Klassenunterschiede als Motive durch die Geschichten, doch die darum herum gesponnenen Szenen sind vielfältig. Gerade recht über einen stotternden Bub aus einer Puppenspielerfamilie spielt Ende der 1930er in New York. "Ein Sinn für Fantasie ist mir so viel wichtiger als die Frage, welche Hautfarbe jemand hat oder wie viel Geld", gibt die Mutter dem Sohn mit auf den Weg und einen Grundton des Buches wieder. Kelsos Dekonstruktion handelt vom historischen Mord am Schwarzen Kelso Cochrane 1959 in Notting Hill, der Täter kam ungeschoren davon. Miss Adele dagegen ist eine schwarze Dragqueen, die sich beim Korsettkauf vom Ladenbesitzer schief angeschaut wähnt.

Éducation Sentimentale schaut indes zurück auf die Zeit, als der Studentin Monica von Frauenzeitschriften eingeredet wurde, dass sie auf Männer "verunsichernd" wirke, sei ihre Schuld. Sexuelle Freiheit spielt eine Rolle in einigen Geschichten, da entwickelt Monica die Idee eines Matriarchats, das die Rolle der Frau beim Sex umdeutet: "Ich habe seinen Schwanz total verschwinden lassen. Ich habe ihn mir einfach geschnappt und tief in mir versteckt, bis er gar nicht mehr vorhanden war." In Jetzt mehr denn je geht es um einen Philosophieprofessor, der Opfer politischer Korrektheit wird. – Der Text ist da skeptisch. Das Erregungspotenzial sozialer Medien sieht Smith kritisch, sie hat kein Smartphone.

Die Hälfte der Texte ist neu, die andere wurde zuvor in Magazinen wie The New Yorker publiziert. Oft treffen in einer Geschichte mehrere Themen aufeinander. So unterschiedlich sie in Ton und Erzählmodus sind, eignen ihnen allen aber eine Lockerheit und Verspieltheit, eine Freude am Erzählen, an Formen und Experimenten. Smith erzwingt nichts, sondern lässt fließen. Immer steht die Geschichte im Vordergrund, nie eine Moral. So tippen die Texte unsere Zeit und Diskurse an, am Rande flackern Donald Trump und der Brexit auf, Smith predigt aber nicht und streut keine Antworten. Sie macht mit feinem Witz höchstens aufmerksam. Dafür hat sie 2018 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur bekommen.

Smith ist zu Recht eine der gefeiertsten Autorinnen ihrer Generation. Die letzten Jahre hat sie mit ihrer Familie in New York gelebt und dort kreatives Schreiben unterrichtet. Als sie 2020 zurück nach London übersiedelte, zog die Familie in die Gegend, wo Smith 1975 als Tochter einer jamaikanischen Einwanderin und eines weißen Briten geboren wurde und in einem migrantischen Arbeiterviertel aufgewachsen ist. Diese Einstellung hält Smiths Sensorium für Klasse, Rasse, Gewalt scharf.

Arbeitsblatt für Erzähler

Immer wieder spielt in Grand Union allerdings auch das Schreiben eine Rolle. Dann macht Smith sich über ein "Arbeitsblatt zu den Techniken des Erzählens" lustig, auf dem Bäume und Häuser gemalt sind: "Will das Arbeitsblatt etwa behaupten, dass Beschreibungen sich nur mit dem befassen können und sollten, was sichtbar ist? Dass es die Aufgabe einer Beschreibung ist, die Wirklichkeit neu festzuschreiben?" Blockade handelt von einer Schreibenden, die sich vom Gedanken an dicke Romane und dem "Komplettierungswahn" befreit hat, nun Fragmente schreibt und einräumt, sie sei vom Betrieb depressiv.

Man darf das natürlich nicht autobiografisch lesen. Doch kann man poetologische Äußerungen mit Smiths Werk abgleichen. Tatsächlich räumte sie nach dem Riesenerfolg ihres Debüts mit erst 24 Jahren auch ein, der damit verbundene Druck hätte bei ihr zu einer Schreibblockade geführt. In Grand Union zeigt Smith auf je engem Raum, was sie immer noch kann: originelle Welten entwerfen, die unsere Verhältnisse klug reflektieren. (Michael Wurmitzer, 1.7.2021)