Die Kirche mit der fehlenden Turmspitze wurde zum Symbol der Katastrophe.

Foto: Gerald Schubert

Bürgermeister Marek Košut freut sich über die Hilfsbereitschaft.

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Ein paar Kilometer vor Moravská Nová Ves plötzlich die erste Straßensperre. "Hier geht es nicht weiter", erklärt ein Polizist mit Corona-Maske. "Überall schweres Gerät, da kommen Sie nicht durch." Dabei hat auf der Fahrt bisher noch nichts auf den Tornado hingedeutet, der vergangenen Donnerstag hier, im südmährischen Grenzgebiet zu Österreich, eine Schneise der Verwüstung gezogen hatte.

Der Polizist beschreibt einen Umweg. Bald tauchen in den Feldern neben der Straße zerstörte Hochspannungsmasten auf. Die umgeknickten wirken wie abstrakte Skulpturen in der Landschaft. Andere sind völlig in sich verdreht und sehen aus wie tanzende Riesen aus Stahl. Sie weisen den Weg nach Moravská Nová Ves.

Presseausweis als Passierschein

Vor der Ortseinfahrt wieder eine Kontrolle. Hier darf man nicht einfach so hinein. Immer wieder verletzen herabfallende Trümmer auch jetzt noch Menschen – meist Hilfskräfte, die sich an den ersten zaghaften Versuchen des Wiederaufbaus beteiligen. Zudem sollen die Einsatzkräfte vor Ort nicht durch Schaulustige behindert werden. Der Presseausweis wird nun zum Passierschein für den Besuch einer kleinen Gemeinde, die man eine Woche zuvor wohl einfach nur als "verschlafen" bezeichnet hätte.

Als Erstes fallen die blauen Planen auf, die überall die abgedeckten Dächer provisorisch ersetzen sollen. Unweit vom völlig verwüsteten Friedhof steht die Kirche, die Turmspitze fehlt – ein Bild, das inzwischen zur Ikone der Katastrophe geworden ist. Oberhalb der Turmuhr ist nun nichts mehr, nur die Luft des brütend heißen Junitages. Die Zeiger stehen auf 19.25 Uhr. Genau um diese Zeit hat der Tornado in der 2600-Seelen-Gemeinde am Donnerstag alles verändert.

Die Uhr mag stehengeblieben sein, doch überall sonst herrscht reger Betrieb. An den Kreuzungen des kleinen Ortes regeln Polizisten den Verkehr. Das ist nötig, damit Feuerwehrautos, Rettungsfahrzeuge und die Lastwägen, die Schutt und Autowracks abtransportieren, einander nicht in die Quere kommen.

Kekse und Konserven

Besonders viel los ist beim Rathaus, das über Nacht zum inoffiziellen Krisenzentrum geworden ist. Das Gebäude ist stark beschädigt, die Fassade wie mit Einschusslöchern übersät, die Fensterscheiben zerborsten. Drinnen aber laufen weiter die Fäden zusammen. In der Toreinfahrt und hinten im Garten türmen sich Hilfsgüter: Konserven, Kekse, Toilettenartikel. "Nimm dir, was du brauchst", steht auf Zetteln, die daneben hängen. Unten ist das Papier stets ein bisschen eingeschnitten, sodass kleine Streifen zum Abreißen entstehen. Darauf stehen Worte wie Vertrauen, Hoffnung, Kraft oder Liebe. Man lebt nicht nur von Konserven allein.

Gleich rechts steht die Tür zu einem Büro offen. Schwer zu sagen, wer hier immer arbeitet, wer gerade nur mithelfen will und wer gekommen ist, weil er selbst Hilfe braucht. Inmitten des Getümmels steht Bürgermeister Marek Košut, beantwortet Fragen von Bürgerinnen und Bürgern, spricht mit Polizeibeamten und Feuerwehrleuten und überlegt mit seinem Team, was als Nächstes getan werden muss.

Täuscht der Eindruck oder spürt auch Košut in der allgemeinen Hilfsbereitschaft eine gute Portion Optimismus, die manchmal sogar so etwas wie Humor aufblitzen lässt? "Die meisten von denen, die sich auf diesem Ameisenhaufen tummeln, sind in der Tat guter Dinge", sagt der Vierzigjährige mit Strohhut und knallrotem T-Shirt. "Aber die, die verzweifelt zu Hause sitzen und ihr Gesicht in den Händen vergraben, weil sie nicht wissen, wie es weitergehen soll, die sehen wir nicht."

Unsicherheit bleibt

Sechs Menschen sind bei der Katastrophe ums Leben gekommen, hunderte wurden zum Teil schwer verletzt. Der Sachschaden lässt sich noch kaum beziffern. In den vier am meisten betroffenen Gemeinden seien etwa 1.200 Privathäuser beschädigt worden, sagt Košut, allein in Moravská Nová Ves an die 400.

Viele, die sich jetzt an erste Reparaturen machen, wüssten noch gar nicht, ob nicht in ein paar Tagen die Statiker kommen und sagen, dass ihr Haus abgerissen werden muss. Strom- und Gasversorgung seien ebenfalls unterbrochen, erklärt Košut, auch die gesamte öffentliche Infrastruktur sei kaputt: die Schulen, die Turnhalle, das Rathaus.

Als der Tornado kam, leitete er hier gerade die Gemeinderatssitzung. "Wir waren mit der Tagesordnung fast durch. Weil wir merkten, dass ein Unwetter aufzieht, wollten wir uns beeilen, damit alle trocken nach Hause kommen." Daraus wurde nichts. Wenig später flogen Äste und Metalltore an den Fenstern vorbei, die Scheiben gingen zu Bruch. Einige retteten sich ins Treppenhaus, Košut versteckte sich hinter einem umgekippten Tisch, während im Sitzungssaal minutenlang Schutt und Möbel herumgewirbelt wurden.

Versicherungen vor Ort

Vor dem Rathaus ist jetzt der Treffpunkt der Hilfsmannschaften, die aus ganz Tschechien gekommen sind, viele davon von den freiwilligen Feuerwehren. Hier kann man sich Wasser und Essen holen. Versicherungen haben hier ihre Zelte aufgeschlagen und helfen Kunden, ihre Ansprüche geltend zu machen. "Wir gehen auch selbst von Haus zu Haus und bieten unsere Unterstützung an", erzählt eine Vertreterin.

Unter einem Wellblechdach hinter der Kirche haben sich drei Frauen ein karges Mittagessen zubereitet. Immerhin, ihr Haus muss wohl nicht abgerissen werden. Ein paar Straßen weiter steht eine ältere Dame in einem kleinen Lebensmittelladen. Im Geschäft ist es dunkel, nur ein Kühlschrank ist an einen Generator angeschlossen. Ihre Gedanken sind bei ihrer 14-jährigen Enkelin, die schwerst verletzt wurde und jetzt in einem Spital in Wien liegt. Die Ware aus dem erleuchteten Kühlschrank verschenkt sie. (Gerald Schubert, 1.7.2021)