Unterschiedliche Gegenüberstellungen, Bezüge und Beeinflussungen: mit Werken von Maja Vukoje, Alexander Calder, Jenni Tischer, Oskar Schlemmer, Paul Klee und Henri Matisse (von links nach rechts).
Foto: Foto: Klaus Pichler / Mumok

In der großen Sammlungspräsentation Enjoy im Museum moderner Kunst (Mumok) werden älteste und jüngste Werke auf fünf Ebenen gezeigt. Das oberste und chronologisch erste Kapitel Revue Moderne lässt Klassiker der Moderne mit zeitgenössischen Werken in Dialog treten. Die Kuratorin Heike Eipeldauer über blinde Flecken, koloniale Wurzeln und Diversität.

STANDARD: Welche Herangehensweise haben Sie verfolgt, um die Highlights der klassischen Moderne der Mumok-Sammlung zu präsentieren?

Eipeldauer: Ich habe mich von den Neuerwerbungen der letzten Jahre leiten lassen und mich aus der Perspektive zeitgenössischer Kunst den frühesten Sammlungsbeständen genähert. Diese spiegeln Diskurse wider, die heute noch wesentlich sind. Mein Anliegen ist es, durch die Lupe der Gegenwartskunst zu fragen, was uns die klassische Moderne heute erzählen kann.

STANDARD: Und was erzählt sie uns?

Eipeldauer: Geschichte ist nichts Abgeschlossenes, sondern etwas Lebendiges, dem wir immer mit einem gegenwärtigen Blick begegnen. Die Konfrontation von Arriviertem und zeitgenössischer Kunst setzt etwas in Bewegung, ist eine Art des Umschreibens von Kunstgeschichte. Sie eröffnet die Möglichkeit, auch Vertreter und Vertreterinnen von Minderheiten oder anderen Kulturen sichtbar zu machen und historische Kernpositionen unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten. Es ist eine Form, mit euroamerikanisch, männlich und weiß dominierten Sammlungsbeständen umzugehen.

Heike Eipeldauer ist seit Anfang 2020 Kuratorin im Mumok.
Foto: Klaus Pichler / Mumok

STANDARD: War von Beginn an klar, dass die Ausstellung so gezeigt wird?

Eipeldauer: Die Kunstgeschichte darf man sich nicht als progressive, geradlinige Entwicklung und Abfolge von Ismen vorstellen, sondern als Konstellation verschiedener Verflechtungen und Brüche – es gibt nicht die eine, westliche Moderne, sondern eine Vielzahl außereuropäischer und regionaler Modernen. Diese Überlegung war die Prämisse für die Ausstellung. Wir wollen zeigen: Die Sammlung lebt!

STANDARD: Welches ist das neueste Werk aus der Sammlung, das gezeigt wird? Und welche Klassiker wollten Sie unbedingt dabeihaben?

Eipeldauer: Der allerneueste Zuwachs ist "The Pink House" der syrisch-libanesischen Künstlerin Simone Fattal. Der Tonplastik liegt eine ähnliche archetypische Form zugrunde wie André Derains Kauerndem von 1907 – das früheste Werk auf der Ebene und direkt daneben positioniert. Ein Klassiker und eines meiner Lieblingswerke der Sammlung.

STANDARD: In der Schau hängt ein Werk von Maja Vukoje bei einem Bild von Paul Klee und einem Glasfenster von Henri Matisse. Was sind die Ergebnisse dieser Gegenüberstellung?

Eipeldauer: Die zeitgenössische Malerin Maja Vukoje bezieht sich unmittelbar auf die Vogelscheuche von Paul Klee aus dem Jahr 1935 und entwickelt daraus ihre Serie von Avataren. Ausgehend von Matisse’ Glasfenster habe ich unterschiedliche Werke versammelt, die den Mythos infrage stellen, dass Abstraktion etwas absolut Neutrales sei.

STANDARD: Ein Fokus der heutigen Mumok-Sammlungspolitik liegt auf Positionen außerhalb des euroamerikanischen Universalismus. Wie kann die Kunstgeschichte aus aktueller Perspektive umgeschrieben werden?

Eipeldauer: Es ist eine große Herausforderung für europäische und US-amerikanische Museen, diesen rein westlichen Blick auf die Moderne zu relativieren und sich mit den blinden Flecken der eigenen Sammlung auseinanderzusetzen. Was wir sicher nicht können, ist, die Geschichte zurückzudrehen und sämtliche Lücken zu schließen. Was wir aber können, ist, die Defizite aufzudecken und Schlüsse für eine pluralistische Sammlungspolitik zu ziehen.

Einflüsse des "Primitiven": Max Ernsts "Festmahl der Götter".
Foto: Bildrecht, Wien 2021

STANDARD: Einer dieser Momente in der Schau ist die Konfrontation von Constantin Brancusis "Die blonde Schwarze" (1933) und "White People in West Africa" (1989/1991/1993) von Andrea Fraser.

Eipeldauer: Brancusis Skulptur ist eine schematische und aus heutiger Sicht diskriminierende Darstellung einer afrikanischen Frau – aber zugleich eines der wichtigen Beispiele der modernen europäischen Skulptur. Umzingelt wird sie von der 82-teiligen Fotoinstallation von Fraser, die sich mit den Folgen des Kolonialismus auseinandersetzt und hinterfragt, wie sehr unsere europäische Identitätsbildung immer schon in Abgrenzung zum vermeintlich Anderen erfolgte. Erst in dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass diese Art der Formfindung auf dem Prüfstand steht. Sie ist von einem zutiefst kolonialistischen Entstehungskontext geprägt.

STANDARD: Dennoch dominieren westliche Positionen. Welche Schritte setzen Sie, um dies zu ändern?

Eipeldauer: Ganz rezent konnten wir über die Österreichische Ludwig-Stiftung ein Schlüsselwerk der zeitgenössischen ägyptischen Künstlerin Anna Boghiguian erwerben. Und für den Herbst bereite ich eine Schau zu dem taiwanesischen Künstler Huang Po-Chih vor, der sich mit der politischen Situation seines Landes auseinandersetzt.

Hybride Masken aus Handyverpackungen von Judith Hopf .

Foto: Bildrecht, Wien 2021

STANDARD: Seit 2011 wurden so viele Werke von Künstlerinnen wie noch nie in die Sammlung geholt – welche waren das in der klassischen Moderne?

Eipeldauer: Es kamen etwa Werke der österreichischen Kinetistin Erika Giovanna Klien aus der Sammlung Dieter und Gertraud Bogner hinzu. Oder auch zentrale Arbeiten von Lee Lozano, Jess Taray oder Kara Walker. Diese werden jetzt alle erstmals gezeigt, setzen aber zeitlich später an.

STANDARD: Sie sind seit Anfang 2020 als Kuratorin am Mumok. Wie wollen Sie die nächsten Entwicklungen der Sammlung beeinflussen?

Eipeldauer: Seit 17 Jahren arbeite ich nun daran, die Leerstellen einer nach wie vor männlich geprägten Kunstgeschichte zu füllen – eine Ausrichtung, die sich mit der Ankaufspolitik des Mumok seit Karola Kraus trifft. Positionen zwischen den großen Namen ausfindig zu machen, die an den Rand gedrängt oder in Vergessenheit geraten sind, sehe ich als eine zentrale Aufgabe einer zeitgemäßen Sammlungspolitik.

STANDARD: Wird der Fokus im Mumok auch wieder verstärkt auf klassische moderne Kunst gelegt?

Eipeldauer: Ja, es ist die Aufgabe eines Museums moderner Kunst, Geschichte und Gegenwart als einen lebendigen Prozess der Um- und Neubewertung zu vermitteln – dies ist eine produktive Art, mit moderner Kunst umzugehen. Aktuell arbeite ich an einer Ausstellung zu dem Bildhauer Medardo Rosso, dem unbekannten Konkurrenten Auguste Rodins, der – wie wir zeigen werden – mit seinem experimentellen Ansatz bis heute wegweisend für zahlreiche Künstler und Künstlerinnen der Gegenwart ist. (Katharina Rustler, 2.7.2021)