Eine Kuh macht den geschmacklichen Unterschied: John Magaro als leicht verpeilter, liebevoller Koch in Kelly Reichardts "First Cow".

Foto: Polyfilm

First Cow klingt nicht umsonst ein wenig wie First Lady. Wie eine Monarchin, stolz auf ihrem Floß thronend, erreicht die Kuh über den Flussweg ihre neue Heimat, eine Siedlung in Oregon. Sie sei dort ebenso fehl am Platz wie die weißen Männer, heißt es einmal in der Bar. Eine Pionierin eben, wie all die anderen hier – Biberfelljäger, Goldsucher und andere Glücksnomaden, die es im frühen 19. Jahrhundert an diese "Frontier" verschlagen hat. Ein paar Hütten im Schlamm, viel mehr ist da noch nicht, aber jeder glaubt fest an seine Gelegenheit.

Kelly Reichardt interessiert sich in First Cow für ein Gespann, das es im Western sonst nie in die Heldenposition schafft. "Cookie", eigentlich Otis Figowitz (John Magaro), begegnen wir das erste Mal beim Eierschwammerlsammeln. Er sorgt für das leibliche Wohl eines Packs grobschlächtiger Kerle, als er in King-Lu (Orion Lee) auf einen flüchtigen Chinesen in Unterwäsche trifft, der sich im Dickicht versteckt hält.

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Ein seltsames Paar, das ist gleich gewiss, doch die beiden passen schon durch ihre sanftmütige Art wunderbar zueinander. Und auch sie treibt der Wunsch an, der Geschichte vorauszueilen, endlich einmal vor allen anderen da zu sein. Amerika ist, anders als der Rest der Welt, noch etwas ungeordneter.

Reichardts Blick auf die frühe Siedlergemeinschaft – wie schon in früheren Filmen folgt sie einer Erzählung ihres Stammautors Jonathan Raymond – ist, mit einem Modewort gesprochen, inklusiv. Sie weist mit ihren Außenseiterfiguren auf die kulturelle Vielfalt hin, die schon in den Gründungsmythen der Vereinigten Staaten angelegt war, und liefert gleich eine frühkapitalistische Parabel mit. Denn King-Lu hat den passenden Geschäftssinn zum Backtalent von Cookie; was fehlt, das sind zunächst nur die geeigneten Zutaten.

Wie Prousts Madeleines

An dieser Stelle kommt nun endlich die Kuh ins Spiel. Denn diese gibt bekanntlich allen Milch, auch jenen, die sich ihr nachts nähern, um sie illegalerweise zu melken. Das Kalkül geht auf. Auf dem Marktplatz gehen die Brandteigkrapfen der beiden Jungunternehmer weg wie warme Semmeln. Jeden Tag werden sie sogar ein wenig teurer. Und nicht nur das, die Käufer geraten, den Madeleines von Proust vergleichbar, in Verzückung, weil sie der Geschmack an die alte Welt erinnert. Ein Stück Kultur an einem unwirtlichen Ort.

Die Besonderheit von Reichardts Filmen liegt im vielstimmigen Detail, im geschärften Auge für soziale Diskrepanzen. Das in der prekären Gegenwart angesiedelte Arbeitsmigrantendrama Wendy und Lucy erzählte davon, dass Freiheit ohne die Solidarität der anderen wenig wert ist; in ihrem ersten Western, Meek’s Cutoff, porträtierte sie Siedlerfrauen als die duldsameren, letzthin stärkeren Charaktere. Reichardts Filme suchen Neuausrichtungen, Korrekturen dominanter Narrative, ohne dies übermäßig zu betonen: Sie zeigt es, indem sie ihre Figuren vor allem atmen lässt.

Heidelbeeren und Träume

Wie schon Meek’s Cutoff ist auch First Cow in der klassischen, enger gefassten Academy-Ratio gedreht, widersetzt sich also schon durch sein Bildformat der gängigen Breitwandvorstellung vom Western. Statt die Handlung auszudehnen, zieht Reichardt das Geschehen an einen Punkt zusammen und schaut geduldiger hin. Oft sieht man aus dem Inneren ihrer Hütte, wie Otis und King-Lu draußen mit Arbeiten zugange sind. Oder sie klauben gemeinsam Heidelbeeren auf, während auf der Tonebene über zukünftige Geschäftsmodelle fantasiert wird. Das wirkt dann schon hintergründig ironisch.

Überhaupt neigt First Cow stärker zum Skurrilen, als man es von Reichardt gewohnt ist. Das liegt auch daran, dass die Figuren in den Vordergrund rücken: diese Chuzpe eines erfinderischen Duos, das trotz Erfolgs keine Miene verzieht – schwermütig, versonnen der eine (Magaro), redseliger, leicht windig der andere (Lee). In einer Schlüsselszene überbringen sie dem reichsten Mann im Orte, dem britischen Kuhbesitzer (Toby Jones), einen Kuchen zum Tee. Die sozialen Gefälle der kleinen Gemeinschaft werden wie in einer guten Komödie dabei so zur Kenntlichkeit gebracht, dass sie die Beteiligten nicht durchschauen.

Doch letztlich ist auch hier das Komische nur eine Frage der Perspektive. Denn die Tragödie ist, dass man weiß, wie die Geschichte ausgeht, nicht nur die des Films selbst (ein Prolog verrät es), sondern die des ganzen Landes. Reichardts Films ist eine kleine, aber herzergreifende Ode an zwei Rebellen, die sich nicht an die miteingeschleppte Machtverteilung gehalten haben, sich das Kapital kurz angeeignet und es mit Zimt und Honig veredelt haben. (Dominik Kamalzadeh, 2.7.2021)