Im Juli 2020 nahmen Adina Camhy, Robin Klengel, Coline Robin und Markus Waitschacher den Zug vom Grazer Hauptbahnhof nach Feldkirchen am südlichen Stadtrand. Der selbstgewählte Startpunkt für eine 65,92 Kilometer lange Wanderung – und gleichzeitig auch die Ziellinie. Denn das junge Quartett, alle aktiv in den Schnittmengen zwischen Architektur, Kunst, Grafik und Kulturanthropologie, hatte sich vorgenommen, die komplette Stadtgrenze abzuwandern, mit Rucksack, Zelt und Proviant. Im Uhrzeigersinn rund um den Uhrturm. Schon in der ersten Nacht, wachgehalten durch den Lärm röhrender Hirsche im Wald, wurde ihnen klar, wie weit eine Großstadt von ihrem eigenen Rand entfernt sein kann.

Von Grenzstein zu Grenzstein:
Adina Camhy, Robin Klengel, Coline Robin und Markus Waitschacher auf ihrer Tour um Graz...
Foto: GrazRand

Das Umrunden von Städten zu Fuß ist ein faszinierender Topos. Der britische Autor Iain Sinclair bilanzierte 2002 in London Orbital sein Abwandern der 188 Kilometer langen Ringautobahn M25, die parallel zur Londoner Stadtgrenze verläuft. Der Wahlberliner Paul Scraton veröffentlichte 2020 mit dem Buch Am Rand: Um ganz Berlin sein Protokoll von 234 Kilometern Grenzwanderung. Auch Graz war schon Ort einer geografisch-performativen Vermessung, allerdings nicht kreisförmig, sondern linear: Beim Steirischen Herbst 1995 zogen Bernd Knaller-Vlay und Dieter Spath mit der Aktion "city-joker" in 72 Stunden eine mathematische Gerade mitten durch die Stadt.

Wolkenbruch und Wespen

Deutlich länger, nämlich sieben Tage, dauerte die Rundwanderung im Juli 2020. Trotz der Nähe zur Zivilisation und zum eigenen warmen Bett hielten die vier stoisch an der Route fest. Auch als sie nach einer Wanderung durch das "Gerinne 607992" und durch dornige Hecken im Wolkenbruch eine enge Schlucht hinunterschlitterten und einer von ihnen auch noch in ein Erdwespennest trat und sie in einer Bahnunterführung in trockene Kleider wechseln mussten. "Das war unser Krisenmoment," sagt Markus Waitschacher.

...die sie zeichnerisch genau
dokumentierten.
Foto: Caroline Robin

Es war nicht die erste gemeinsame Aktion, schon 2016 hatte man sich im stigmatisierten Stadtviertel Gries zusammengefunden. Unter dem Motto "Griesplatzzeichnen" sprachen sie mit über 100 Bewohnern und ließen sie ihr eigenes Quartier aufzeichnen. "Unser gemeinsamer Nenner ist die Stadtforschung und die Schnittmenge von Kunst und Wissenschaft", sagt Robin Klengel, als stellvertretender Vorstand des Forums Stadtpark kulturell bestens vernetzt. Als das Grazer Kulturjahr 2020 seinen Open Call für Ideen mit Stadtbezug aussandte, war klar, dass sich diese Ingredienzen wieder ideal mischen würden: Stadterfahrung, Recherche, künstlerische Praxis und Sozialforschung in bislang vernachlässigten Gebieten.

Graz ist unter Österreichs Großstädten wohl eine der zentralistischsten, denn seine Mitte ist mit Schlossberg und Uhrturm seit Jahrhunderten ikonisch markiert. Ein Motiv, das wie eine Magnetnadel die Blicke an sich zieht und in zahllosen Postkarten und Stadtbildern festgehalten ist. Hier dreht sich kaum jemand um 180 Grad um. "Auch für uns war die Grenze fremd, obwohl zwei von uns aus Graz stammen", sagt Robin Klengel. "Selbst als gebürtiger Grazer kennt man die Stadtgrenze nur an den Punkten, an denen man sie überquert, aber man erlebt diese Punkte nie im Zusammenhang." So gab es bei der Stadtumrundung immer wieder Momente, an denen bekannte Orte unvermittelt auftauchten, bevor man dann wieder ins Dickicht der Terra incognita verschwand. "Auch die räumlichen Dimensionen sind anders als erwartet, weil man beim Gehen die Umgebung anders wahrnimmt. Man bewegt sich aufmerksamer, man sieht, riecht und hört", fügt Adina Camhy hinzu.

Foto: Lena Prehal

Viele Begegnungen

Man bewegte sich auch keineswegs allein durchs Gelände, denn die Begegnungen am Stadtrand waren von vornherein ein wichtiger Teil der Idee. "Es geht uns bei allen unseren Projekten darum, mit Menschen ins Gespräch zu kommen," sagt Camhy. Und Begegnungen gab es zuhauf: mit einem Großgrundbesitzer, der Betreiberin einer Gärtnerei, einem 24-Stunden-Pfleger, der sich in der Arbeitspause im Auto am Waldrand ausruht. Mit Bewohnern, die das zerzaust aus dem Unterholz auftauchende Quartett fürsorglich verpflegten, und dem netten Gastwirt, der ihnen eine Übernachtung auf der Terrasse anbot. Aber auch mit einem Neo-Hausbesitzer-Jungvater und Security-Leuten, die höflich, aber bestimmt auf die Unbetretbarkeit ihrer Grundstücke verwiesen. Fast alle reagierten freundlich und neugierig.

Diese Randerfahrungen und Begegnungen sind mehr als kuriose Anekdoten, denn sie erzählen viel darüber, wie eine Stadt funktioniert und wie sie sich verändert. Eine eindrückliche Erkenntnis waren das Gasthaus sterben und der Verlust von Treffpunkten. Auch Verkehr und Infrastruktur offenbaren, wenn man sie quer zur Intention benutzt, ihre Schieflage: Straßen, die für die vier Wanderer zur riskanten Gratwanderung wurden, weil sie nicht für Fußgänger vorgesehen sind. Und natürlich Österreichs Liebling, der Kreisverkehr.

Doch auch hier gibt es Arten von Öffentlichkeit, nur sehen sie nicht aus wie der Haupt- oder Jakominiplatz. Es sind Lücken, Leerstellen und Gstettn. Der einsame Parkplatz, auf dem Autofahrer ihre Donuts in den Schotter driften. Ein improvisierter Tennisplatz. Der Lüftungsturm des Plabutschtunnels mitten im Wald, der sich als beliebter Treffpunkt für Jugendliche herausstellte. Dazwischen die wachsende Stadt, in Form von Einfamilienhäusern, mit kollektiven Wohnformen wie dem kooperativen Wohnen von Architekt Fritz Matzinger in Raaba (1978). Im flachen Grazer Süden schließlich das flächenfressende Hinauswuchern der Stadt ins Murtal, mit Gewerbeparks und Einkaufszentren auf beiden Seiten der Stadtgrenze.

Ein Jahr nachdem die vier die Ziellinie überschritten, ist ihr Reisebericht als Buch erschienen. Keine schnelle Instagram-Story, sondern eine liebevoll analoge Sammlung aus Text, Zeichnungen und Fundstücken. Konsequenterweise fanden die ersten Buchpräsentationen diese Woche an den Orten des Geschehens statt: am Rand, im Wirtshaus, bei Akkordeonmusik. Erst dann kommt das Uhrturm-Bürgertum an die Reihe. (Maik Novotny, 04.07.2021)