Literatur, die weit über die Dauer ihrer Lektüre hinaus nachhallt: Barbara Frischmuth.

Foto: APA / Barbara Gindl

Die Lebensbilanz, die Amelie anlässlich ihres 70. Geburtstag zieht, ist niederschmetternd: keine Gratulanten, nicht einmal zufällige. Ihr einziger Sohn mit Familie vor Jahren tödlich verunglückt. Ihre Gesundheit zwar besser als bei vielen Alterskolleginnen, jedoch "diese Art von Einsamkeit, in der sie lebte, und der Mangel, der sie von vielem abhielt, womit diese Einsamkeit zu mildern gewesen wäre, auf die Dauer nicht zu ertragen".

Amelie, die Protagonistin aus Barbara Frischmuths Erzählung Kein Engel vor meiner Tür, geht in die Offensive und tut das, was ihr als Schauspielerin und Sprecherin, nach der schon lange kein Hahn mehr kräht, am nächsten liegt: Sie inszeniert sich noch ein weiteres Mal neu.

Sie legt das seit Jahren unbenutzte schicke Kostüm mit Hut an, das sie in jungen Jahren in ihrer einzigen erfolgreichen Filmhauptrolle getragen hat, erschauspielert sich den Zugang zu Vernissagen, auf die sie nicht eingeladen ist, und schichtet ihr karges Monatsbudget um, damit sie zum Frühstücken ins Kaffeehaus gehen kann.

Ein paar Wochen hält sie durch, doch außer dem Kellner, der sie mit "liebe gnädige Frau" anspricht und dem sie Lügen über wartende Enkelkinder erzählt, bleiben die ersehnten Kontakte und Gespräche aus.

Das Ende bleibt offen

Barbara Frischmuth, "Dein Schatten tanzt in der Küche". 20,10 Euro / 224 Seiten. Aufbau, Berlin 2021
Cover: Aufbau Verlag

Keine Hoffnung, nirgends. Was bleibt, ist eine müde Amelie im zunehmend zerschlissenen Kostüm auf einer Parkbank. Als sie just dort doch noch von jemandem erkannt und angesprochen wird, ist es jemand, der nicht anders als sie auf ganzer Länge gescheitert ist: "Völlig abgewirtschaftet, liebe Amelie."

Es könnte der Beginn geteilter Mühsal sein, aber nach nur einem einzigen heiteren Abend hält das Schicksal bereits seinen nächsten Schlag bereit. Das Ende bleibt offen, doch Amelie ist ihrem Traum von einem Leben, "das es mir wert ist, gelebt zu werden", immer noch etwas schuldig.

Altersarmut und Vereinsamung

Es ist wahrlich keine Erzählung, die einen heiter entlässt. Es geht um Altersarmut und Vereinsamung, um enttäuschte Hoffnungen, Selbstvorwürfe und Schicksalsschläge. Und doch geht eine diffuse Kraft von Frischmuths Heldin Amelie aus. Eine Kraft in ihr, die gleichsam wider besseres Wissen weiterexistiert und nicht aufgeben will, zu glauben, dass da nicht doch noch mehr ist, als ihr das Leben bisher zugeteilt hat.

Sie passt zum Titel des neuen Frischmuth-Erzählbands, zu deren eindringlichen Heldinnen die ausgemusterte Schauspielerin Amelie gehört. Der Band heißt: Dein Schatten tanzt in der Küche. Und in mancher Hinsicht halten die Frauenfiguren, die Frischmuths in den fünf Erzählungen des Buchs ins Zentrum stellt, zeitlebens nach den erträumten Schattenbildern ihrer selbst Ausschau.

Es ist ein Gemeinplatz, aus dem hier Literatur entsteht: Das Leben verläuft oft anders als erwartet. Da ist die traumatisierte Darya in der titelgebenden Erzählung, die vor einer Zwangsheirat aus Syrien flieht und ihren Geliebten bei der Bootsüberfahrt ertrinken sieht.

Tapfer versucht Darya, die durch den Schock ihre Vatersprache Arabisch vergessen hat, im neuen Land in der Integration und ihrer Arbeit als Englischlehrerin Halt zu finden, und zerbricht doch an Schuldgefühlen, einem – vielleicht: vermeintlichen – Verrat und ihrer Isolation. Mithilfe von Schlaftabletten verschafft sie sich eine lebensgefährliche Bewusstseinspause, die ihr zugleich als Test dafür gilt, ob sie irgendjemandem abgehen wird.

Ein ungleiches Paar

Da ist die Bäurin Paula in Die Katze, die im Sprung gefror, die um einen immer höheren Preis in ihrem eigenen Haus alt werden möchte, oder Agnes, die für eine Woche auf den Sohn des neuen Freunds ihrer Tochter aufpassen soll und der die Omarolle ebenso schwerfällt, wie sie ihren Mann nach 25 Ehejahren leicht hat ziehen lassen. Wie Frischmuth in dieser kurzen Erzählung mit dem Titel Enkelhaft das Warten auf ein verspätet heimkehrendes Volksschulkind zu einer Angst-, Ärger- und Lebensrückblicksfalle steigert, ist wahrlich meisterhaft.

Und schließlich sind da – in der letzten und längsten Doppelerzählung des Bandes, Die Rötung der Tomaten im Winter – Doris und Ödön, ein ungleiches Paar mit großem Altersunterschied, deren Geschichten Frischmuth aus zwei Perspektiven erzählt, um damit aufzudecken, wie sehr man sich verfehlen und aneinander vorbei lieben kann.

Barbara Frischmuth, die am 5. Juli ihren 80. Geburtstag feiert, erweist sich in diesem neuen Erzählband ein weiteres Mal als die verlässlich souveräne, entspannte Erzählerin, die ihre Leser und Leserinnen seit über fünf Jahrzehnten mit ihrer Literatur begleitet.

Viele ihrer großen Themen tauchen auch in den fünf neuen Erzählungen auf: Leben zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen, die Wechselfälle des Schicksals, Generationengefälle und Patchwork-Konstellationen, das trügerische Wesen der Erinnerung oder Natur und Pflanzen als Lehrmeister, Metaphern und Betrachtungsgegenstände.

Menschliche Naturvorstellungen

Barbara Frischmuth, "Natur und die Versuche, ihr mit Sprache beizukommen".18,00 Euro / 74 Seiten. Residenz, Salzburg, Wien 2021
Cover: Residenz Verlag

Viel geht es auch um Alter und Einsamkeit, zumal von Frauen. Kürzlich hat sich Barbara Frischmuth einmal selbst als "natural born feminist" bezeichnet – eine famose Eigendefinition für eine Autorin, die seit Jahrzehnten in ihrem Schreiben eindringliche Frauenfiguren gestaltet.

So auch hier: Vollständige weibliche Lebensbögen sind auf mitunter wenigen Seiten komprimiert. In Nebensätzen erwähnt Frischmuth Entscheidendes. Manches bleibt in der Schwebe und lässt ihre Erzählungen, die auf den ersten Moment so schlicht daherkommen, weit über die Dauer der Lektüre hinaus nachhallen – gerade weil manches in Andeutungen zwischen den Zeilen bleibt.

Ein offenes Ende hat vorerst auch noch jene Beziehung, der sich Barbara Frischmuth in ihrem zweiten kürzlich neu erschienenen Buch widmet. Es trägt den schönen Titel Natur und die Versuche, ihr mit Sprache beizukommen. Dabei handelt es sich um zwei längere Essays, die aus geplanten – und dann Corona-bedingt verschobenen – Vorträgen entstanden sind.

Frischmuth folgt darin den menschlichen Naturvorstellungen und -begriffen quer durch Geschichte, Kulturen und Ideologien: gezähmte, unterworfene, animistisch aufgeladene, romantisierte oder ausgebeutete Natur, schließlich die gefährdete Natur im Anthropozän, deren millionenjahrlangsame Entwicklungsrhythmik auch jene sich nicht bewusst machen, die die Natur – joggend, waldbadend, auszeitelnd, baumumarmend – im Beschleunigungsmodus der Gegenwart verherrlichen.

Vielfältige Gedankengebäude

Anhand der Werke von Philosophen, Kulturanthropologen oder -soziologen wie Michel Serres, Bruno Latour oder Emanuele Coccia folgt Frischmuth den vielfältigen Gedankengebäuden rund um das gute alte Natur-Kultur-Differenzenproblem. Im Ende sind ihre aufwendig recherchierten Essays vor allem eines: ein großes Plädoyer für mehr Naturwissen als wesentlichster Garant für die Einsicht, dass wir durch Unwissenheit und Entfremdung von der Natur zunehmend an dem Ast sägen, auf dem wir alle sitzen.

Allein ohne Pflanzen würde der Rest der Welt ersticken. Es lohne also, so Frischmuth, sich mit Pflanzen, Pilzen oder auch Bakterien zu befassen, genauer hinzuschauen und mehr über die jüngsten Entdeckungen zu ihrer Intelligenz, ihren Kooperationstechniken oder ihren Netzwerksystemen zu erfahren.

Denn nur so entstehe ein Grundverständnis dafür, "dass wir Menschen nur eine Art von unendlich Vielen sind, die auf diesem Planeten leben, und dass einige von ihnen bessere Konzepte für ein Überleben entwickelt haben als wir". (Julia Kospach, ALBUM, 3.7.2021)