Ingo Schulze, in Dresden geboren, lebt in Berlin.

Foto: Imago / Berliner Akademie der Künste / Gezett

"Das ist der Schriftsteller Schulze!", rief der Maler Grützke, als hätte er mich eben erst bemerkt. "Schulze, Ingo, er arbeitet in Prosa." In der dritten und letzten Geschichte seines neuen Erzählbandes Tasso im Irrenhaus (dtv), der ältere, aber umgearbeitete Geschichten enthält, ist es wiederum der Erzähler Ingo Schulze, der die Geschichte erzählt.

Es ist eine aus anderen Arbeiten bekannte Technik von Schulze, die Rolle als Schreiber und Erzähler in die eigene Arbeit einzuweben und so das eigene Tun und die generelle Bedeutung der literarischen Stimme zu hinterfragen und in alle möglichen Richtungen auszuloten.

Was kann Kunst? Was soll Kunst? Ist sie Sinn? Oder Unsinn? Das sind die Fragen, denen Schulze als Literat gerne hinterhersteigt, um ihnen über felsige Wände hinweg und über vom Regen vermatschte Pfade folgend Antworten abzuluchsen, man kann auch sagen, Hinweise auf Antworten. Denn Abschließendes und Allgemeingültiges kann es in dieser Sache nicht geben.

Selbstironisch und aberwitzig

In dem schmalen Buch stehen diese Fragen nun im Rampenlicht von Schulzes Interesse. Und wer befürchtet, dass er sich durch metaphysische, adornohafte Abhandlungen kämpfen muss, dem sei gesagt: Auf den gewieften Erzähler Schulze, der so wunderbar selbstironisch, aberwitzig und leichtfüßig große Themen aufzubereiten und auszurollen weiß, ist auch in diesem Fall Verlass.

In Die Vorlesung ist es ein minder erfolgreicher Schulze, der über ein Bild des Berliner Malers Johannes Grützke schreiben soll, um sich ein bisschen Geld dazuzuverdienen, und der schließlich unbeholfen mit Fragen über das Wesen von Kunst und der vermeintlich gewichtigen Bedeutung des Künstlers hantiert. "Was ist denn nun das Ziel der Malerei?, fragte ich." Ja, was ist das Ziel der Malerei und der Kunst? Ist ihr überhaupt so etwas wie ein Ziel immanent? Schulze entfacht ein erzählerisches Kammerspiel im Rahmen eines grotesken Kaffeeklatsches in einem Hospiz, wo Grützke seinem Tod entgegendämmern soll. Allerdings ist der Maler noch lebendiger als gedacht – und je mehr Schulze und die anderen Anwesenden um die gewichtige Frage des Kunstsinns kreisen, sie lächerlich machen, ihr pathetisch und ernsthaft nachgehen, quasi mit ihr spielen, desto lebendiger wird dieser Grütze in seinem Sterbebett. Auf die Frage nach der Idee, die seinem Bild Der Tod des Sokrates innewohnt, sagt der weisheitskönnerisch: "Ich dulde alles. Man kann nicht verlangen, verstanden zu werden."

Bild im Bild

Schulze legt diese Erzählung wie ein Bild im Bild an – eben nach Motiven von Grützkes berühmtem Bild aus dem Jahr 1975. Dass derjenige, der als Künstler (aber auch als Beobachter) vermeintlich nach Sinn wie ein blinder Taucher am Meeresgrund nach Perlen sucht, häufig völlig deplatziert ist im Diskurs um das Sinnstiftende der Kunst, ist einer der roten Fäden, die sich durch die drei Erzählungen ziehen. Darauf weist auch der Titel hin.

Ist es nicht die Kunst, die einen in dieses Irrenhaus aus Fragen, fehlenden Antworten, Luftlöchern, Fallstricken und doppelten Böden zwingt und somit auch die eigene Identität verzerrt, sie unterläuft und verwässert? Um solche Identitätsfragen geht es in der ersten Geschichte, in deren Mittelpunkt die monströse und lärmende Installation Das Deutschlandgerät von Reinhard Mucha steht, die den Beobachter mit einer visuellen und körperlichen Erfahrung geradezu überwältigt.

Und dazu die Geschichte des ominösen Schriftstellers B.C., der aus der DDR ausreisen musste und für sein Dissidententum in der Bundesrepublik gefeiert wurde. Der hadert mit seiner neuen Heimat, er fühlt sich derangiert und kommt sich deplatziert vor, was wiederum ein zentrales Thema von Muchas Kunstwerk ist: "B.C. war der erste Mensch, den sie kennenlernte, der tatsächlich darunter litt, dass es zwei Deutschlands gab, dass das eine ihn hinausgeschmissen hatte und er nicht dorthin zurückkonnte, wo seine Eltern, Geschwister und Freunde wohnten (die er bestenfalls in Budapest oder Prag sehen konnte), und dass er sich im Westen immer noch ‚wie in einem Hotel‘ fühlte."

Im neuen Deutschland

"Er war ungeduldig mit sich und litt darunter, dass er kein Gefühl der Zugehörigkeit für das Land empfand, das seine Bücher druckte, ihn zu Lesungen einlud, ihm Preise gab und doch ganz anständig behandelt." Damit ist B.C. in gewisser Weise der Raum abhandengekommen, der seine Kunst hervorgebracht hat.

Ihm gegenüber steht der etwas jüngere Erzähler Schulze, der ebenfalls aus dem Osten stammend, mit seiner Literatur im neuen Deutschland angekommen zu sein scheint, an dem aber ebenfalls tiefschürfende Fragen nach der gesellschaftspolitischen Stoßrichtung der eigenen Kunst zerren.

Die zweite und mittlere Geschichte Tasso im Irrenhaus ist in gewisser Weise das manchmal etwas sperrige Scharnier zwischen den beiden anderen Erzählungen, indem dort die zentralen Wesensfragen der Kunst anhand von Eugéne Delacroix’ Bild verhandelt werden. Trotz aller Schwergewichtigkeit ist Schulzes Ritt durch die Irrungen und Wahrheiten der Kunst vor allem eins: ein unglaublicher erzählerischer Spaß. (Ingo Petz, ALBUM, 3.7.2021)