Abschiebungen nach Afghanistan sind rechtlich äußerst heikel, erläutert der Jurist Ralph Janík im Gastkommentar.

Kerzen erinnern an die ermordete 13-Jährige in Wien-Donaustadt. Unter Mordverdacht stehen junge Afghanen. Schnell hat sich eine politische Debatte über Abschiebungen entwickelt.
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Die Zahl der Menschen, die Österreich verlassen müssten, übersteigt jedes Jahr die Zahl derjenigen, die das auch tatsächlich tun. In der Forschung spricht man von einem "deportation gap" – EU-weit kommen nur rund 30 Prozent der illegal aufhältigen Menschen ihrer Verpflichtung zur Ausreise nach.

Viel Gerede, wenig Umsetzung

Staaten scheitern aus den unterschiedlichsten Gründen darin, Menschen "außer Landes zu bringen": fehlende Kooperation des Heimatlandes, das mitunter sogar bestreitet, dass es sich bei den Betroffenen um seine eigenen Staatsangehörigen handelt, gesundheitliche und rechtliche Gründe oder schlichte Unauffindbarkeit. Selbst innerhalb der EU stößt der "Dublin-Verschiebebahnhof", also die Überstellung von Asylwerbern in das Land, das für einen Antrag zuständig ist, oft an ihre Grenzen.

Genauere Daten dazu gibt es leider nicht. Auch die simple Gegenüberstellung der Ausreisepflichtigen und der tatsächlichen Außerlandesbringungen hat ihre Tücken – allein deswegen, weil ein und dieselbe Person mehrfach in der Statistik auftauchen kann. Mehr als einen Trend abbilden kann man so also nicht.

Klar ist aber, dass verhältnismäßig wenige afghanische Asylwerber Österreich wieder verlassen. Laut Auskunft des Innenministeriums wurden in den letzten vier Jahren 2164 Afghanen außer Landes gebracht, sie sind also entweder freiwillig ausgereist (848 Fälle), wurden abgeschoben (674) oder in ein anderes EU-Land gebracht (642). Zum Vergleich: Allein 2020 haben 3137 Afghanen in Österreich Asylanträge gestellt, 2019 waren es 2979, im Jahr davor 2120 und 2017 noch 3781. Gegenwärtig erhalten lediglich 33,42 Prozent von ihnen einen positiven Asylbescheid.

Europäische Ebene

Damit befinden sich viele junge Männer ohne klaren Aufenthaltsstatus in Europa. Nicht nur in Österreich. Laut Europäischer Statistikagentur sind Afghanen die größte Gruppe aller illegal Aufhältigen in der EU, etwas mehr als die Hälfte sind Männer zwischen 18 und 34 Jahren.

Die Forderung, vermehrt abzuschieben, ist insofern nicht neu. Die Europäische Union hat erst im Jänner 2021 eine gemeinsame Erklärung mit Afghanistan verabschiedet, um bei der Verhinderung irregulärer Migration und der Rückkehr zusammenzuarbeiten.

"Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbietet es, Menschen in ein Land zu bringen, in dem ihnen Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ernsthaft droht."

So weit das Papier. In der Praxis sieht es freilich anders aus. Afghanistan ist chronisch instabil, im Fragile State Index liegt es auf Platz neun (zum Vergleich: Österreich liegt auf Platz 166), im globalen Friedensindex wiederum auf dem 163. und damit letzten Platz (Österreich ist hier Sechster). Was Abschiebungen enorm erschwert. Eine Regierung, die ihr Land nicht unter Kontrolle hat, ist kein verlässlicher Partner. Darüber hinaus sind Abschiebungen nach Afghanistan schon jetzt rechtlich äußerst heikel: Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbietet es, Menschen in ein Land zu bringen, in dem ihnen Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ernsthaft droht. Dieses Verbot gilt übrigens absolut: Ob es sich um Mörder, Vergewaltiger oder Terroristen handelt, ist damit unerheblich. Bei unbegleiteten Minderjährigen kommt hinzu, dass das Wohl des Kindes gewahrt werden muss: Abschiebungen in Länder ohne "geeignete Aufnahmemöglichkeit" sind laut einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Jänner 2021 daher nicht erlaubt.

Strenge Rechtslage

Eine eigentlich strenge Rechtslage, die in der Praxis allerdings flexibel gehandhabt wird. Abschiebungen nach Afghanistan werden üblicherweise damit begründet, dass es eine innerstaatliche Fluchtmöglichkeit gibt, also nicht das gesamte Land unsicher sei, sondern nur einzelne Gebiete.

Wie lange dieses Argument noch hält, ist fraglich. Die Taliban sind gerade dabei, mehr und mehr Gebiete zu erobern. Spätestens nach dem für den 11. September geplanten US-Truppenabzug könnten sie ganz Afghanistan unter ihre Kontrolle bringen. Mit wem man dann zusammenarbeiten will, bleibt offen. (Ralph Janík, 3.7.2021)