Szene aus der Flüchtlingslager Moria. Viele junge Männer sind allein unterwegs – besonders viele davon aus Afghanistan.

foto: christian fischer

Wien –Die Bestürzung und die Sensationsberichterstattung über die Tötung eines 13-jährigen Mädchens in oder unweit einer betreuten Wohnung in Wien-Donaustadt haben Misstrauen gegen die in Österreich lebenden Menschen aus Afghanistan gesät. Das ist nicht zum ersten Mal so: Immer wieder sorgten in den vergangenen Jahren Straftaten von – allermeist – afghanischen Männern für Aufsehen, Furcht und asylrechtliche Verschärfungsforderungen.

Oft ging es dabei um Sexualverbrechen, um Vergewaltigungen in Parks oder an anderen öffentlichen Orten. Auch die getötete 13-Jährige soll Spuren sexueller Gewalt aufweisen. Begehen Männer aus dem zentralasiatischen Land tatsächlich häufiger Übergriffe als andere? Ist die kriminelle Energie unter Afghanen besonders ausgeprägt? Was überhaupt weiß man über die rund 45.000 in Österreich lebenden Männer und Frauen aus dem seit Jahrzehnten von Anschlägen und Krieg gebeutelten Staat?

Mehrheitlich unauffällig

Ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt: Die große Mehrheit der Afghanen und Afghaninnen im Land ist strafrechtlich unauffällig. Im Jahr 2020 standen sie im Verdacht von insgesamt 4877 Delikten, jede einzelne erstattete Anzeige mitgezählt. Ihr Anteil an sämtlichen Tatverdachten in diesem Jahr beträgt 1,8 Prozent.

Relativ hoch hingegen im Verhältnis zu der Stärke der Community ist die Zahl der Sexualdelikte, derentwegen Afghanen angezeigt wurden. 189 der insgesamt 5766 behördenbekannten Verdachtsfälle gingen 2020 auf ihr Konto, darunter 47 Vergewaltigungen.

Ungeübt im Kontakt

Womit das zusammenhängen könnte, erläutert Christian Holzhacker, pädagogischer Bereichsleiter beim Verein Wiener Jugendzentren. Der Verein bietet niederschwellige offene Jugendarbeit an, was bedeutet, dass es keine besonderen Bedingungen gibt, um eine Wiener Jugendzentrum zu besuchen.

"Junge Männer aus Afghanistan und aus anderen Fluchtstaaten wie Syrien oder dem Irak sind vielfach sehr ungeübt im Kontakt mit Frauen", sagt Holzhacker. Aufgrund ihrer Fluchtgeschichte und ihrer Erziehung hätten "junge Afghanen, Syrer und Iraker vielfach wenig dienliche Männlichkeitskonzepte" – etwa Vorstellungen von drohendem "Gesichtsverlust" gegenüber dem weiblichen Geschlecht und von der Notwendigkeit, den eigenen Willen durchsetzen zu müssen.

"Blick auf eigene Männlichkeit"

Wie man das verändern könne? Ziel sei, den jungen Männern "einen anderen Blick auf die eigene Männlichkeit und kritisches Hinterfragen des eigenen Verhaltens zu ermöglichen", sagt Holzhacker. Funktionieren könne das aber nur, wenn gleichzeitig auch die männlichen Betreuer in sich gingen. "Es funktioniert Schritt für Schritt", sagt der Jugendarbeiter – und nennt ein Beispiel: "Wenn ich als 1,90-Meter-Mann nachts aus der U-Bahn aussteige, kann ich hinter der Frau auf der Rolltreppe bleiben und ihre Angst in Kauf nehmen. Oder ich gehe rasch an ihr vorbei, damit sie sich nicht fürchtet."

Dass es in der afghanischen Community einen ausgeprägten Bedarf an Gendersensibilisierung geben dürfte, zeigt schon deren Zusammensetzung. Buben und junge Männer sind stark in der Mehrzahl, denn immer noch kommen alljährlich Hunderte als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) in Österreich an. 2020 waren es 38 unter 14- und 732 14- bis 18-Jährige, Burschen und – vereinzelte – Mädchen zusammengenommen. Im Nationenvergleich ist das die mit Abstand größte Zahl von Fluchtwaisen.

Ausgeprägt perspektivlos

Zu den Gründen des Kinder- und Jugendlichenexodus aus Afghanistan hat das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) vor mehr als zehn Jahren eine Studie unter dem Titel "Trees only move in the wind" erstellt, als man in Europa mit diesem Phänomen erstmals ernsthaft konfrontiert wurde. Darin wird unter anderem auf die auch damals ausgeprägte Perspektivlosigkeit für die junge Generation in dem Land hingewiesen, sowie auf die Hoffnung, in Europa und anderen Ländern ein besseres Leben führen zu können – und vielleicht Teile der Familie nachholen zu können.

Hinzu komme eine lange Tradition des Auswanderns, wobei so entfernte Ziele wie Europa erst in den vergangenen Jahrzehnten für viele erreichbar wurden. Vielfach seien die Familien selbst die treibende Kraft hinter solchen Emigrationsentscheidungen. Oft gehe es auch darum, die Buben oder jungen Männer vor einer Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen zu bewahren.

Verlorene Söhne

Bei der Asylkoordination in Wien bestätigt Herbert Langthaler diese Sicht der Dinge. Oft werde vergessen, "dass junge Männer in einer Bürgerkriegssituation die gefährdetste Gruppe überhaupt sind", sagt er: "Die Taliban kommen zu einer Familie und sagen: Gebt uns euren Sohn oder zahlt uns monatlich Geld für einen Kämpfer. Da verkaufen viele lieber ein Stück Land und schicken ihre Söhne weg."

Diese erreichen, wenn sie Glück haben, Europa mithilfe von Schleppern nach Wochen bis Monaten. Nicht zuletzt aufgrund der Abschottungspolitik der EU würden die Bedingungen auf dieser Reise immer härten, sagt Langthaler. Nach dem Asylantrag in Österreich dann sind sie als Fluchtwaisen großteils auf sich allein gestellt. Einzelne geraten auf die schiefe Bahn. (Irene Brickner, 3.7.2021)