Nach dem 0:2 gegen England war die Europhorie in Deutschland freilich früh perdu.

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Toni Kroos ist zurückgetreten, Manuel Neuer, Thomas Müller, Joshua Kimmich und all die anderen lecken nach dem bitteren EM-Aus der deutschen Nationalmannschaft erst mal ihre Wunden. Die zweite große Turnier-Enttäuschung nacheinander hat den deutschen Fußball erneut in ein Tal der Tränen gestürzt, das böse Erwachen könnte allerdings erst noch folgen. "Wir sehen das Gewitter kommen im Jugendbereich", sagte Joti Chatzialexiou, "es ist fünf nach zwölf was den deutschen Nachwuchsfußball angeht."

Der Sportliche Leiter Nationalmannschaften beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) bezeichnete sich nach dem überraschenden EM-Gewinn der U21-EM als "Mahner". Seine Einschätzung, "dass nach der WM 2026 auf Deutschland eine Phase der Erfolglosigkeit zukommt", ist freilich nicht übertrieben. Auch DFB-Direktor Oliver Bierhoff findet die Aussichten "besorgniserregend".

Ausbildungsdefizite

Bis zur Heim-EM 2024 komme "schon das ein oder andere nach", glaubt Bierhoff, er denkt dabei in erster Linie an Top-Talente wie Jamal Musiala und Florian Wirtz. Doch es mangelt an der spezifischen Ausbildung. Dem Land der Mittelstürmer fehlt seit Jahren ein echter Neuner. Daher vermisst nicht nur Bierhoff einen "Strafraumstürmer mit Killerinstinkt". In Zeiten der falschen Neun hielt man diesen Stürmertyp für nicht mehr so wichtig.

Der DFB hat dieses Problem erkannt und steuert bereits seit dem historischen WM-Debakel 2018 mit dem Projekt Zukunft gegen. In einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit der Deutschen Fußball Liga (DFL) sind Veränderungen im Nachwuchsbereich in Arbeit. Neben der Abschaffung der Junioren-Bundesligen soll es Verbesserungen im Bereich der Trainerausbildung, der Talentförderung und der Auswahlmannschaften geben.

Rückstand

Die Ausbildung der Nachwuchsspieler soll wieder spezifischer werden – mehr Dribbler als Einheitstypen. "Wir brauchen die Spieler, die sich auch auf der Straße durchsetzen", forderte Chatzialexiou. Dabei ist aber Geduld gefragt. Diese Maßnahmen würden nicht "von heute auf morgen greifen", sagte Bierhoff. "Andere Nationen", betonte Chatzialexiou, "sind individuell weiter".

Große Hoffnungen ruhen auf dem neuen Bundestrainer. Hansi Flick sei "ein Visionär, er ist innovativ, neuen Dingen gegenüber aufgeschlossen – und ein absoluter Teamplayer", sagte DFB-Akademiechef Tobias Haupt dem Münchner Merkur/tz. "Ich bin überzeugt davon, dass er für unsere Akademie-Themen ein Katalysator sein wird und somit auch für das vom DFB ausgerufene Ziel 'Zurück an die Weltspitze'."

Verzerrtes Bild

Der gerade gewonnene U21-Titel dient dabei zwar als Mutmacher, doch die Aussagekraft ist überschaubar. Von der U21-Auswahl, die 2017 Europameister wurde, stand lediglich Serge Gnabry im EM-Kader. Auch bei anderen Nationen ist der Übergang nicht einfach. Die Ukraine wurde vor zwei Jahren U20-Weltmeister. Aus diesem Aufgebot schaffte es kein Spieler zur laufenden EURO.

Zudem zogen andere Länder ihre für die U21 einsatzberechtigten Spieler direkt in die A-Nationalmannschaft hoch. Aus der DFB-Auswahl hätte einzig Kai Havertz noch für die U21 auflaufen dürfen. Daher sei man im Altersvergleich "ein bisschen hinten dran", sagte U21-Erfolgscoach Stefan Kuntz: "Da wissen wir schon, dass wir hinterher hinken."

Vorbild England

England dient als Vorbild. Allerdings profitierte der Nachwuchs dort auch von den hohen TV-Einnahmen der Premier League. "In den letzten zehn Jahren wurde viel in Personen und Strukturen im Jugendbereich investiert", sagte Per Mertesacker, der Leiter der Akademie beim FC Arsenal: "Das trägt jetzt Früchte."

Damit die düsteren Prognosen nicht eintreten und die Zukunft nicht noch erfolgloser wird, bedarf es einer Kraftanstrengung des gesamten deutschen Fußballs. "Auch die Bundesliga-Klubs müssen ihre Schlüsse ziehen aus der EM", sagte der ehemalige Bundestrainer Berti Vogts. Beim DFB setzen sie auf Flick. Dessen Erfahrungen als Spitzentrainer, sagte Akademiechef Haupt, seien für den Verband von "unschätzbarem Wert". (sid, 3.7.2021)