Insigne und Mancini haben noch viel vor.

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Jubel nach Insignes Tor.

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Spinazzola fiel gegen Belgien verletzt aus.

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Jubel in Turin.

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München – Italien schwebt. Und über den Wolken fand sogar der einzige traurige Azzurro sein Lächeln wieder. Als seine himmelhoch jauchzenden Teamkollegen auf dem Heimflug immer wieder "Ole, Spina!" grölten, waren die bitteren Tränen des Leonardo Spinazzola endgültig getrocknet. Lorenzo Insigne, einer der Helden der "magischen Nacht" von München, schwor: "Wir versuchen jetzt, ganz weit zu kommen – für ihn."

Mancini: "Schwerer Verlust für uns"

Linksverteidiger Spinazzola ist eine der Entdeckungen der EM, auch bei diesem denkwürdigen 2:1 (2:1) im Viertelfinale gegen Mitfavorit Belgien spielte er stark. Doch in der Schlussphase verletzte sich der 28-Jährige ohne Fremdeinwirkung schwer an der Achillessehne und musste unter Tränen vom Platz getragen werden. Der italienische Fußballverband bestätigte am Samstag die Diagnose Achillessehnenriss. In den unbändigen Jubel über den Einzug ins Halbfinale gegen Spanien mischte sich bei den Azzurri der Spina-Schock.

"Das ist ein schwerer Verlust für uns. Er war so wichtig für diese Mannschaft", sagte Insigne blass. Trainer Roberto Mancini ergänzte sichtlich betrübt: "Das hat er nicht verdient. Er hat brillant gespielt, er ist einer der besten Spieler der EM. Es ist so schade, wir wünschen ihm alles Gute."

Erinnerungen werden geweckt

Das kam im Flieger zum Ausdruck – ebenso wie der Stolz und die Freude über diesen großen Sieg. Federico Bernardeschi riss das Bordmikrofon an sich, und neben dem Trost spendenden Liedchen für ihren niedergeschlagenen Freund sangen die Azzurri das unvermeidliche "Notti Magiche", den 31 Jahre alten WM-Hit von Rock-Queen Gianna Nannini.

Spinazzola gab sich am Samstag schon wieder halbwegs zuversichtlich. "Ich kann euch nur sagen, dass ich bald zurück sein werde! Da bin ich sicher!", schrieb der 28-Jährige auf Instagram. Außerdem meinte Spinazzola: "Unser azurblauer Traum geht weiter und mit dieser großartigen Gruppe ist nichts unmöglich."

1990 bei der Heim-WM war im Halbfinale Schluss. Die jetzige Mannschaft aber, schrieb die Gazzetta dello Sport, "verdient diesen EM-Titel" – und sie hat das Zeug dazu. Trainer Mancini sieht sein Jungs fußballerisch auf einer Stufe mit den "besten italienischen Mannschaften". Mit den WM-Helden von 2006 und 1982, oder mit jener Squadra Azzurra, die 1968 zum bislang einzigen Mal den EM-Pokal gewann.

"Herz und Kopf, Mut und Technik"

"Wir können Großartiges erreichen", sagte Insigne, der mit seiner Arjen-Robben-Gedächtnis-Finte das spielentscheidende 2:0 (44.) besorgt hatte. Worauf dieser unerschütterliche Glaube beruht? Auf ganz viel spielerischer Klasse gepaart mit nicht nur taktischer Cleverness und einem Teamgeist, dem bisher niemand etwas entgegensetzen konnte.

"Ich habe so viel Spaß hier wie noch nie", sagte Insigne. Mit diesen Azzurri zu spielen, sei "wie mit den Kumpels unter der Woche. Wir spielen alle mit einem Lächeln im Gesicht, das ist unser Geheimnis."

Tuttosport schwärmte von "bellissima Italia", von "Herz und Kopf, Mut und Technik". La Repubblica stellte angesichts der geringen Körpergrüße der Torschützen Nicolo Barella (1,72 m) und Insigne (1,63) begeistert fest, man könne auch als kleiner Mensch "Fußball spielen wie ein Riese".

Wenn es ein Manko gab, dann war es die Schlussphase, in der es die Italiener mit dem Zeitspiel etwas übertrieben und so die glanzvolle Vorstellung im Stile eines Champions etwas an Strahlkraft verlieren ließen. Auch die Wunderheilung von Ciro Immobile, der vor dem 1:0 auf dem Boden lag und einen Elfmeterpfiff hören wollte, nach dem Tor aber schnell wieder stand, rief Kopfschütteln hervor.

Blick auf Spanien

Nun wartet aber Spanien auf die Italiener. "Wir gehen nach Wembley in dem Wissen, dass wir eine Mannschaft sind, die noch viel zeigen kann", sagte Mancini mit Blick auf das vorweggenommene Endspiel am Dienstag (21.00 Uhr) im Londoner Wembley-Stadion.

Nach 32 Spielen ohne Niederlage fühlt sich Italien zu allem fähig – zumal gegen Belgien erstmals in dieser historischen Serie eine Top-15-Nation bezwungen wurde. "Das war nicht Wales, Schweiz, die Türkei oder Österreich", sagte Mancini, "sondern die Nummer eins der Welt! Und hätten sie nicht einen fragwürdigen Elfer bekommen, wäre es noch einfacher gewesen."

In den Straßen Roms oder auf dem zentralen Piazza del Popolo feierten Zehntausende Tifosi, als wäre der EM-Triumph bereits perfekt. "Das ist der Höhepunkt meiner Karriere", schwärmte Insigne. Doch bevor er und ganz Italien völlig abhoben, mahnte er eilig: "Wir haben noch nichts erreicht!" (sid, 3.7.2021)