Die Schweizer Mannschaft formte eine große Gemeinschaft.

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Akanji und Schär trauern.

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Elferkiller Simon.

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St. Petersburg/Berlin – Mit einem seltsamen Gefühlschaos stiegen Yann Sommer und Co. am Samstag in den Flieger Richtung Heimat. Die Schweizer Stehaufmännchen, die nach einem erneuten Kraftakt und einem zweiten Elfmeter-Drama bei der EM dann doch gefallen waren, wurden auch mit einer Nacht Abstand von unterschiedlichsten Emotionen gepackt: Frust über das Viertelfinal-Aus, Wut auf den Schiedsrichter und Stolz auf das Erreichte.

Trost aus der Heimat

"Leider gehen wir nach Hause, aber wir gehen mit hoch erhobenen Köpfen", sagte Nationaltrainer Vladimir Petkovic. Seine Mannschaft sei auch bei der knappen Viertelfinal-Niederlage gegen Spanien (1:3 i.E.) "heroisch" aufgetreten und habe "eine sensationelle Entwicklung gemacht", betonte Petkovic: "Wir sind alle Helden."

Das unterstrich auch der Schweizer Bundespräsident Guy Parmelin, der der Nati via Twitter ein "Bravo für die schöne Reise" schickte und betonte: "Ihr habt uns zum Träumen gebracht." Dazu zählt auch Tennis-Ass Roger Federer ("Es war ein Traum mit euch"), der aus Wimbledon tröstende Worte ans Team richtete: "Kopf hoch, Jungs."

Geballte Emotionen

Manchen fiel das schwerer als anderen. Unglücksrabe Ruben Vargas vom FC Augsburg, der beim letzten Schweizer Elfmeter den Ball übers Tor drosch, weinte sich nach dem Schlusspfiff an der breiten Männerbrust seines Trainers aus. Auch der einmal mehr überragende Sommer hatte große Mühe, seine Tränen zu unterdrücken. "Man lebt in so einem Turnier extrem viele Emotionen...", sagte der Torhüter von Borussia Mönchengladbach dem SRF, als ihm die Stimme stockte. Nach einer kurzen Pause brachte er noch ein brüchiges "Ich bin sehr stolz" zusammen, dann verließ er das flugs das Interview.

Nerven und Kraft gefehlt

Sommer hatte sein Team, das ohne den gelbgesperrten Anführer Granit Xhaka auskommen musste, nach dem Ausgleich durch Xherdan Shaqiri (68.) und der umstrittenen Roten Karte für Remo Freuler (77.) mit glänzenden Paraden bis ins Elfmeterschießen gerettet. Dort wäre er beinahe wie schon beim Achtelfinal-Coup gegen Weltmeister Frankreich zum umjubelten Helden avanciert – doch bis auf Mario Gavranovic versagten den Schweizer Schützen die Nerven. Vielleicht habe ihnen nach zwei 120-Minuten-Schlachten innerhalb von fünf Tagen auch "ein bisschen die Kraft gefehlt", vermutete Petkovic.

Nach der roten Karte rettete sich die Schweiz in Unterzahl ins Elfmeterschießen. Für den deutschen Schiedsrichter Manuel Gräfe war der Platzverweis zu hart, "Gelb hätte gereicht". "Über ihn nervt sich die ganze Schweiz", schrieb der Blick über den englischen Schiedsrichter Michael Oliver.

Spanien feiert Goalie

Spanien feierte indes Goalie Unai Simon. Als "neuer Heiliger" wird er gepriesen – und San Iker höchstpersönlich gab dafür seinen Segen. "Grande Unai Simon!!", twitterte Iker Casillas. Der spanische Rekordtorhüter hatte die Furia Roja 2008 mit zwei gehaltenen Elfmetern ins EM-Halbfinale geführt, 13 Jahre später gelang seinem Nachfolger in St. Petersburg die gleiche Heldentat.

Simon habe sich "Casillas Anzug übergestreift", schrieb die Zeitung Marca, und das Blatt As attestierte dem 24-Jährigen die "Hände eines Heiligen". Dieser bewahrte den Favoriten vor dem EM-Aus und wurde zum "Star des Spiels" gewählt. "Er ist ein Elfmeter-Killer", schwärmte Nationaltrainer Luis Enrique, der vor dem Shutout intensiv auf seine Nummer eins eingeredet hatte: "Ich habe ihm gesagt, dass wir stolz auf ihn sind, egal wie es ausgeht." Denn die schwerste Prüfung hatte der Schlussmann von Athletic Bilbao da schon bestanden.

Goalie-Los: Erst Unglücksrabe, dann Held

An seinem kuriosen Aussetzer im Achtelfinale gegen Kroatien (5:3), als er mit einem unerklärlichen Stockfehler ein Eigentor von Pedri verschuldet hatte, ist Simon nicht zerbrochen – im Gegenteil. Er ist daran gewachsen. Er habe sich die Szene "sechs, sieben Mal angeschaut" und sich damit "ein bisschen gemartert". Natürlich seien ihm "negative Gedanken aufgekommen", gab der Baske zu, "aber die Mannschaft brauchte mich, und ich musste so weitermachen."

Also mitspielen, mitdenken, Risiken eingehen. "Denn das ist es, was der Mister von mir verlangt", sagte Simon. Damit war Trainer Enrique gemeint, der vom Torwart eine aktivere Spieleröffnung als im Klub verlangt. Diese Forderung sollte der Trainer aber auch nochmal an seine Feldspieler stellen, denn spielerisch überzeugte der frühere Welt- und Europameister wieder nicht.

Reicht das für den Titel? Er habe zumindest noch keine Mannschaft im Turnier gesehen, die besser als seine eigene sei, betonte Enrique. Auch Italien nicht. "Es wäre lächerlich, wenn man es ins Halbfinale schafft und dann nicht an das Finale glaubt", sagte der frühere Nationalspieler. (sid, red, 3.7.2021)