Auch ein halbes Jahr nach dem Putsch wird in Myanmars größter Stadt Yangon dagegen protestiert.

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Die Lage in Myanmar war noch nie einfach. Doch seit dem Putsch am 1. Februar hat sich die ohnehin unübersichtliche Gemengelage in dem kriegsgebeutelten Land um weitere Akteure verkompliziert. Die Auswirkungen sind in täglichen Berichten über Tote, Verletzte und die ständig steigende Zahl an Vertriebenen zu erkennen.

Erst Ende vergangener Woche wurden 25 Menschen in dem kleinen Ort Depayin vom staatlichen Militär niedergemetzelt. Die Tatmadaw, wie die Armee auch genannt wird, spricht von "bewaffneten Terroristen", die ihre Soldaten in einen Hinterhalt gelockt hätten, bei dem ein Armeesoldat getötet wurde. Die Tatmadaw hätte daraufhin mit einem Gegenschlag reagiert, bei dem es zu den mehr als zwei Dutzend Toten kam.

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Ein Dorfbewohner, der die Geschehnisse mit ansah, aber anonym bleiben wollte, schildert die Vorkommnisse im Gespräch mit Reuters etwas anders: Die Armee sei am Freitagmorgen mit vier Lastwägen ins Dorf eingefallen, woraufhin sich die lokale "Volksverteidigungskraft" den Soldaten entgegenstellen wollte. Ihre Waffen waren aber denen der Tatmadaw weit unterlegen, die Armeesoldaten hätten "auf alles geschossen, das sich bewegte", sagte der Bewohner. Allein aus der Region um Depayin sind mittlerweile 10.000 Menschen geflohen.

Wer sind die "Volksverteidigungskräfte"?

Was von der Staatsarmee als "bewaffnete Terroristen" bezeichnet wird, sind neue Milizen, die sich seit dem Putsch am 1. Februar formiert haben. Sie selbst bezeichnen sich als "Volksverteidigungskräfte", auch PDF (People’s Defence Forces), und kämpfen auf der Seite der Schattenregierung NUG (National Unity Government). Die PDFs kommen zu all jenen bewaffneten Kräften im Land hinzu, die sich in den vergangenen Jahrzehnten ohnehin der Tatmadaw entgegengestellt haben.

Denn Myanmar befindet sich seit seiner Unabhängigkeit von Großbritannien 1948 fast durchgehend im Bürgerkrieg. Das ethnisch äußerst diverse Land hat es nie geschafft, einen Kompromiss im Hinblick auf die Staatsform zu finden, der für alle Beteiligten zufriedenstellend gewesen wäre. Großen Anteil an dieser Situation hat freilich, dass ein Großteil des Landes seit spätestens den frühen 1960er-Jahren fest in der Hand des Militärs war. Die Junta rechtfertigte ihre eigene Macht eben mit diesem Argument: dass nur sie für Sicherheit sorgen könnte.

Langersehnte Öffnung

Hoffnungen auf eine demokratische Öffnung Ende der 1980er-Jahre wurden brutal niedergeschlagen, die damalige Demokratie-Ikone Aung San Suu Kyi musste ins Gefängnis beziehungsweise in den Hausarrest. Erst rund zwanzig Jahre später verwirklichte sich der Traum vieler Burmesen, wie die Bewohner des Landes genannt werden: Die Junta ließ ab 2008 Öffnungen im Land zu. Suu Kyi gewann 2015 mit ihrer NLD die Parlamentswahlen haushoch; das Militär behielt aber 25 Prozent der Sitze weiterhin in der eigenen Hand – so will es die von ihm geschriebene Verfassung.

Zu jeder Zeit kam es zwischen dem Militär und verschiedenen ethnischen Armeen im Land zu größeren und kleineren Kämpfen. Viele von ihnen sind seit Jahrzehnten kriegserprobt. Zu den stärksten ethnischen Armeen zählen

- die der Kachin im Norden des Landes, an der Grenze zu China;

- die der Shan im Nordosten, an der Grenze zu China, Laos und Thailand;

- die der Karen im Süden, im Kayin-Staat an der Grenze zu Thailand.

Die mächtige Wa-Armee regiert überhaupt über ein quasi unabhängiges Territorium im Nordosten. Sie ist sogar im Besitz eines Luftabwehrsystems. Es sind jene Gebiete, in denen die Zusammenstöße mit der Tatmadaw in den vergangenen Wochen besonders oft und heftig waren.

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Mitten ins Junta-Kernland

Was aber fast alle Milizen bis zum Putsch im Februar 2021 gemeinsam hatten, ist, dass sie in den gebirgigen Grenzregionen, also von Rakhine im Osten über Kachin im Norden hin zu Kayin im Süden, tätig waren. Das Kernland der burmesischen Mehrheit der Bamar in der Ebene galt eigentlich immer als fest in Tatmadaw-Hand.

Seit dem Putsch ändert sich das nun. Viele der – eigentlich 2020 gewählten – NLD-Politiker wurden damals in Hausarrest oder in Haft gesteckt, andere konnten untertauchen. Nur wenige Wochen nach dem Putsch formierte sich aus dem Untergrund also eine "Gegenregierung", die Nationale Einheitsregierung (NUG), die im April sogar eine neue Verfassung verlautbarte. Das bahnbrechende an dem Dokument war, dass erstmals ein Kompromiss auch mit vielen der ethnischen Milizen geschlossen wurde.

Die NUG sieht sich als rechtmäßige Vertretung Myanmars und kämpft für ihre Anerkennung, sowohl international als auch in der Heimat. Unter ihrer Anleitung haben sich die neuen PDFs gegründet. Wie so oft in Myanmar sind das keine homogenen, strikt NUG-kontrollierten Einheiten, sondern bewaffnete Gruppen, die mal mehr, mal weniger eng mit der NUG zusammenarbeiten.

880 Tote, 230.000 Vertriebene

Begründet wurde ihre Errichtung damit, die Bevölkerung vor gewalttätigen Überfällen und Übergriffen des als brutal bekannten Militärs zu schützen. Die erst friedlichen Proteste und die Streikbewegung gegen den Putsch im Februar wurden rasch vom Militär brutal niedergeschlagen. Mindestens 880 Menschen sind laut Uno seit Februar vom Militär getötet worden, mehr als 5.000 Menschen wurden verhaftet. 230.000 Menschen wurden demnach vertrieben.

Wohin sich die PDFs weiterentwickeln, ist ungewiss. Die Vision der NUG ist es, sie in Zukunft zu bündeln und mit einer "Einheitsarmee" ein neues Kapitel in Myanmars Geschichte aufzuschlagen. Die Tatmadaw hat die PDFs Anfang Mai zu Terrororganisationen erklärt. (Anna Sawerthal, 5.7.2021)