Über Moskau entsteht immer wieder einmal ein Regenbogen – für mehr Gleichberechtigung Homosexueller sorgt das allerdings nicht.

Foto: Kirill KUDRYAVTSEV / AFP

Ein Schritt vor und zwei zurück. Die russische Supermarktkette Vkusville ist mit einem riskanten Experiment rigoros gescheitert. Das Unternehmen, das sich ökologisch und fortschrittlich gibt und vor allem auf eine junge urbane Käuferschaft zielt, hatte in der vergangenen Woche unter dem Titel "Geheimnisse des Familienglücks" eine neue Werbekampagne in den sozialen Netzwerken gestartet.

Unter den verschiedenen Familien, die laut dem Reklamespot bei Vkusville einkauften, fand sich in einer Fotostory auch eine Mutter mit zwei erwachsenen Töchtern, von denen eine mit einer Lebenspartnerin zusammenwohnt. Den Eintrag versah das Unternehmen mit dem Kommentar, eine Familie sei "weniger eine Verwandtschaft des Bluts oder ein Eintrag im Pass, sondern vielmehr uns liebende Menschen".

Trotz Homophobie

Es war das erste Mal, dass eine bekannte russische Marke sich so offen für die Rechte von Homosexuellen einsetzt. Sie seien sehr froh über die Einladung gewesen, sich an der Werbung zu beteiligen, erzählte die Mutter namens Juma. "Für uns war es wichtig zu zeigen, das man trotz Homophobie glücklich sein kann."

Glück und Freude währten allerdings nur kurz. Denn schon kurz darauf setzte eine Hasskampagne ein. Offiziell verstieß das Posting dabei nicht einmal gegen die rigorose russische Gesetzgebung, die seit 2013 "Homosexuellenpropaganda" gegenüber Minderjährigen verbietet. Immerhin war der Eintrag mit dem Vermerk 18+ gekennzeichnet.

Morddrohungen

Konservative und homophobe Netzwerke verbreiteten die Nachricht von der Werbung schnell – versehen mit dem Aufruf zu Boykott und Gegenmaßnahmen – an ihre Mitglieder. Die Beteiligten wurden Ziel von Schmähungen und erhielten Drohbriefe. Unter anderem sei ihr angedroht worden, die "Familie abzuschlachten", beschrieb eine der beiden Töchter ihre Erfahrungen nach dem Werbeartikel.

Über Vkusville erging ebenfalls ein Shitstorm. Dem Konzern wurde die Verbreitung "antirussischer Werte" vorgeworfen. In den hasserfüllten Kommentaren im Internet machten sich viele User keine Mühe, zwischen Homosexualität, Sodomie und Pädophilie zu unterscheiden.

Linie des Kreml

Die russische Gesellschaft gilt als mehrheitlich homophob. Einer Umfrage des Levada-Instituts aus dem Jahr 2019 zufolge (neuere Daten gibt es nicht) bezeichneten 56 Prozent der Russen ihre Einstellung gegenüber Homosexuellen als negativ, nur drei Prozent als positiv.

Dies hat auch mit der Informationspolitik des Kremls zu tun, die den Kampf für Gleichberechtigung als Versuch des Westens bezeichnet, die "traditionellen russischen Werte" von Familie, Vaterlandsliebe und Gehorsam zu untergraben. An den Boykottaufrufen beteiligte sich so wenig überraschend auch die Chefredakteurin des Kreml-Senders RT, Margarita Simonjan.

Sie habe nichts gegen Vkusville und interessiere sich auch nicht für das Privatleben von Homosexuellen, "aber einkaufen werde ich bei Vkusville nicht mehr", denn mit dieser Zurschaustellung von Diversität habe es im Westen auch begonnen, bemühte sie die typische Kreml-Argumentation, wonach Homosexualität nicht verboten sei, aber bitte schön nicht in die Öffentlichkeit gehöre.

Entschuldigung

Nach vier Tagen knickte das Unternehmen ein. Die Supermarktkette löschte den Eintrag nicht nur, sondern setzte eine persönliche Entschuldigung, unterschrieben unter anderem von Firmengründer Andrej Kriwenko, an dessen Stelle. Der Beitrag "hat die Gefühle einer großen Zahl unserer Käufer, Mitarbeiter, Partner und Zulieferer verletzt. Wir bedauern, dass es so gekommen ist, und halten die Veröffentlichung für einen Fehler, der infolge der Unprofessionalität einzelner Mitarbeiter zustande gekommen ist", heißt es nun.

Viel gerettet haben dürfte die Entschuldigung nicht. Im Gegenteil. Enttäuscht wurden nun auch die, die zuvor den Mut von Vkusville, gegen den Strom zu schwimmen, gelobt hatten. Den Managern habe weder die Todesstrafe noch der totale Geschäftsverlust gedroht, erklärte der Publizist Viktor Schenderowitsch. Doch die mangelnde Bereitschaft, für seine Werte einzustehen, führe zum Faschismus, warnte er.

Mit (sexistischer) Ironie kommentierte der Blogger Mitja Dostojewski den Vorfall: Innerhalb einer Stunde seien beim Lebensmittelhändler Vkusville alle Eier ausgegangen, was die Konzernführung mit der Erklärung "Wir haben nie Eier gehabt" begründete, schrieb er auf seinem Account. (André Ballin aus Moskau, 6.7.2021)