Es hätte besser Robert Habeck die Kanzlerkandidatur der Grünen übernehmen sollen, findet eine Mehrheit in Deutschland. Doch die Entscheidung ist für Annalena Baerbock gefallen. Die 40-Jährige ist die erste Kanzlerkandidatin der deutschen Grünen.

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Es gibt ein Ritual, das jeden Montag in Berlin stattfindet. Zunächst ziehen sich die Spitzen der Parteien zu Beratungen zurück, danach geben sie in Pressekonferenzen bekannt, was ihnen wichtig erscheint.

Michael Kellner, der Bundesgeschäftsführer der deutschen Grünen, hat an diesem Montag einiges mitzuteilen. Etwa dass das Klimaschutzpaket der deutschen Regierung nicht ausreichend sei. Oder dass die Impfquote in Deutschland noch steigen müsse. Auch dass er mit jungen Grünen eine tolle "Summer School" abgehalten habe.

Das Buch

Kein Wort zur Causa prima, die derzeit allerorts diskutiert wird: das neue Buch von Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Immer offensichtlicher wird, dass sie an vielen Stellen die Worte anderer übernommen hat, ohne die Quelle zu nennen.

So wies die "Bild"-Zeitung auf ein Interview hin, das der ehemalige grüne Außenminister Joschka Fischer (1998 bis 2005) im Dezember 2020 der "Neuen Zürcher Zeitung" ("NZZ") gegeben hat. Er sagte über die Gaspipeline Nord Stream: "Dieses Projekt war nie energiepolitisch, sondern immer geopolitisch motiviert seitens Russlands. Das Ziel war die Umgehung der Ukraine und Osteuropas, nicht Gaslieferungen nach Westeuropa."

In Baerbocks Buch heißt es auf Seite 202: "Diese Pipeline war seitens Russlands nie energiepolitisch, sondern immer geopolitisch motiviert. Das Ziel ist die Umgehung der Ukraine und Osteuropas, es sind nicht die Gaslieferungen nach Westeuropa."

In Kontakt mit Fischer und Trittin

Auch beim ehemaligen grünen Umweltminister Jürgen Trittin (1998 bis 2005) hat Baerbock nachgelesen. Dieser hatte im April in einem Gastbeitrag in der "Frankfurter Rundschau" mit Blick auf die Beziehungen zu den USA geschrieben: "Auf Feldern von strategischer Bedeutung wie Energie, Digitalisierung, Finanzindustrie gilt Bidens 'Buy American'. Europa muss das ernst nehmen."

Bei Baerbock heißt es: "Europa muss diese geoökonomischen Interessen ernst nehmen. Natürlich muss eine neue transatlantische Agenda auch in Feldern von strategischer Bedeutung wie Energie, Digitalisierung oder Finanzindustrie gelten (...)."

Festhalten an Baerbock

Bei den Grünen heißt es, selbstverständlich habe Baerbock Gedankengänge von Trittin und Fischer einfließen lassen können, die beiden seien ja bekanntlich einflussreiche Grüne, und Baerbock sei mit ihnen in Kontakt. Doch es wird schon auch die Frage gestellt, warum die Kanzlerkandidatin nicht einfach die beiden ehemaligen Minister als Quelle angegeben hat.

Über all das möchte Grünen-Geschäftsführer Kellner an diesem Montagnachmittag aber nicht sprechen. Doch es dauert nicht lange, und er muss. Ob damit zu rechnen sei, dass Robert Habeck übernehmen und als Kanzlerkandidat einspringen werde, wird er gefragt. Kellners Antwort: "Es gibt in diesem Wahlkampf ein gemeinsames Team Grün, das klar und deutlich hinter Annalena Baerbock steht und zusammenarbeitet."

Er mahnt dafür mehr Fairness im Wahlkampf ein. Ständig "Skandal, Skandal!" zu rufen werde "dem Ernst dieser Zeit nicht gerecht". Und er wünscht sich: "Wahlen sollten im fairen Wettstreit gewonnen werden."

Alleinstellungsmerkmal

Die Idee vom Kanzlerkandidaten Habeck ist nicht so unendlich weit hergeholt. Er führt seit 2018 mit Baerbock die Partei, und er hat kein Hehl daraus gemacht, dass er gerne Kanzlerkandidat geworden wäre. Doch als Frau hatte Baerbock das erste Zugriffsrecht.

Die Grünen erhofften sich bei dieser Entscheidung auch, dass sie vom Alleinstellungsmerkmal einer Kandidatin – neben Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) – profitieren könnten.

Doch derzeit ist davon nichts zu merken. In einer INSA-Umfrage für die "Bild am Sonntag" liegen die Grünen nur noch bei 18 Prozent, also wieder deutlich hinter der Union (28 Prozent) und nur noch einen Punkt vor der SPD (17 Prozent).

Klare Worte in der "Taz"

Besonders bitter für die Grünen: Nicht die "Bild"-Zeitung, sondern ausgerechnet die linksalternative "Tageszeitung" ("Taz"), die in grünen Kreisen hohes Ansehen genießt, sprach sich als erstes deutsches Medium für einen Wechsel bei der Kanzlerkandidatur aus. Baerbock solle zugunsten Habecks zurücktreten. Der Kommentar hatte den Titel "Es ist vorbei, Baerbock", und er wurde von vielen deutschen Medien zitiert.

Habeck schweigt seit Tagen, er scheint untergetaucht. Bei den Grünen hieß es am Montag, er sei im "wohlverdienten Urlaub", bevor er nächste Woche seine "Küstenreise" antrete. Habeck wird in seinem Heimatbundesland Schleswig-Holstein auf Sommertour gehen, Betriebe besichtigen und mit Menschen vor Ort sprechen.

Wenig Rückhalt

Eine Mehrheit der Deutschen hält es laut einer Civey-Umfrage für die "Augsburger Allgemeine" für einen Fehler, dass die Grünen mit Baerbock und nicht mit Habeck als Kanzlerkandidaten in die Bundestagswahl ziehen. 61 Prozent finden, dass sich die Grünen falsch entschieden haben, und nur 24 Prozent halten Baerbocks Kandidatur für richtig.

Zur Seite gesprungen ist Baerbock die ehemalige Familienministerin Franziska Giffey (SPD), die selbst wegen Plagiaten in der Doktorarbeit zurücktrat: "Was hier deutlich wird, ist, dass es in Deutschland einen Automatismus gibt: Es muss sich nur einer finden, der einen Plagiatsvorwurf erhebt, schon wird die Person komplett infrage gestellt und damit beschädigt." (Birgit Baumann aus Berlin, 5.7.2021)