Diese Kuh könnte irgendwann einmal eine Million Tonnen Fleisch produzieren, ohne selbst geschlachtet zu werden. Züchtung aus Stammzellen soll es möglich machen.

Foto: imago / Frank Sorge

Seelenruhig steht die Kuh auf der idyllischen Wiesenlandschaft. Sie kaut ihr Gras, so wie jeden Tag Millionen Kühe ihr Gras kauen, Milch geben, geschlachtet werden. Sie ahnt wohl kaum, dass wenige Hundert Meter von der Weide entfernt eifrig an der Abschaffung der Kuh gearbeitet wird – oder zumindest der Viehhaltung, wie wir sie kennen.

Im ersten Stock eines unauffälligen Laborgebäudekomplexes im schweizerischen Wädenswil am Zürichsee steht Rupali Prasad vor einem gläsernen Gefäß, aus dem etliche Schläuche herausragen, die mit einer Maschine verbunden sind. Es ähnelt entfernt einem menschlichen Herz, und es ist auch das Herzstück von Mirai Foods: ein sogenannter Bioreaktor, ein Gefäß, in dem man Organismen unter kontrollierten Bedingungen züchten kann. Es ist ein unabdingbares Instrument bei der Herstellung von Impfungen und anderen Arzneien, aber auch Gärtanks in Brauereien sind nichts anderes als große Bioreaktoren. Und schon bald soll in diesen sonderbaren Gefäßen echtes Fleisch wachsen – ohne dass ein Tier dafür sterben muss.

"Tiere sind schlechte Essensverwerter", sagt Mirai-Mitgründer Christoph Mayr. Wie schlecht, darüber ist sich die Wissenschaft uneinig, die Zahlen reichen von zwei bis 16 Kilogramm Futter für ein Kilo Fleisch – abhängig von Tierart und Haltungsform. 80 Prozent der weltweiten landwirtschaftlichen Flächen werden in irgendeiner Art für Nutztiere verwendet – sei es als Weide oder weil dort Futter angebaut wird. Rund ein Siebentel aller Treibhausgasemissionen geht auf ihr Konto. So, sagen immer mehr, kann es einfach nicht weitergehen. Tut es aber: Bis 2050 wird der Fleischhunger um 70 Prozent zunehmen, sagt die Welternährungsorganisation (FAO).

Das Millionen-Dollar-Huhn

Das Fleisch aus dem Labor soll es richten: 80 Prozent weniger Fläche und 90 Prozent weniger CO₂ versprechen Start-ups wie Mirai für ihr Fleisch aus dem Labor – bei gleichem Geschmackserlebnis. Nur: Sie tun das schon sehr lange. Startschuss, sagt man, war ein Paper des damaligen Studenten und jetzigen Biden-Beraters Jason Matheny im Jahr 2005, in dem er die Idee des laborkultivierten Fleisches erstmals ausführte. Einige Jahre später sympathisierte die Tierschutzorganisation Peta mit der Idee und schrieb ein (bisher nicht gewonnenes) Preisgeld von einer Million Dollar für denjenigen aus, der täuschend echtes Geflügelfleisch im Labor züchten kann.

Sieht aus wie Fleisch und soll auch so schmecken: ein erstes Labor-Fleischlaberl von Mirai.
Foto: Mirai Foods

2013 kostete die österreichische Ernährungswissenschafterin Hanni Rützler schließlich öffentlich den weltweit ersten Laborburger. Zwei Jahre wurde im Labor an ihm gezüchtet, 250.000 Dollar verbraten. Das Good Food Institute zählt inzwischen 70 Unternehmen, die an kultiviertem Fleisch forschen, allein 20 wurden vergangenes Jahr gegründet. Das ewige Versprechen, damals wie heute: Das Fake-Fleisch sei nur "wenige Jahre" vom Supermarktregal entfernt.

Nun könnte es endlich so weit sein. Das israelische Unternehmen Future Meat hat dieser Tage die weltweit erste Fabrik fertiggestellt, die Laborfleisch erstmals in größerem Maßstab herstellt. Rund 5.000 Burgerpatties sollen dort täglich vom Fließband rollen – zum Preis von rund 35 Euro pro Kilo.

In der Massenproduktion ist Mirai noch nicht, erste Prototypen gibt es hingegen schon. "Das, was bei uns im Labor abläuft, ist eigentlich sehr ähnlich zu dem, was in der Natur passiert", sagt Mayr. Das Start-up rühmt sich damit, als einige der wenigen in der Branche auf Gentechnik zu verzichten. Nachdem einer lebenden Kuh Stammzellen entnommen wurden, werden diese zunächst isoliert und vermehren sich dann im Bioreaktor durch Zellteilung. Die Zellen für Muskelmasse und Fett kommen dabei jeweils von unterschiedlichen Rinderrassen, werden getrennt produziert und erst am Ende zu dem vereint, was wir gemeinhin als Fleisch bezeichnen.

Wildwuchs in der Petrischale

Mayr legt eine Petrischale mit kleinen Fleischfetzen unter ein Mikroskop. Auf dem Bildschirm erscheint ein grün eingefärbtes Muster aus kleinen Fäden. "Unsere Zellen sind richtige Divas", sagt Mayr und lacht. "Leider wachsen sie nicht immer alle in die gleiche Richtung." Im richtigen, lebenden Tier schlängeln sich die Muskelfasern entlang der Blutgefäße – im Labor fehlen diese aber. Das Team von Mirai legt deshalb pflanzliche Fasern mit in die Kultur, an denen sich die Zellen orientieren können.

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Ein Bioreaktor bei Shiok Meats. Das israelische Unternehmen will darin Garnelenfleisch produzieren.
Foto: Reuters

Theoretisch könnte man mit einer Portion Stammzellen rund eine Million Tonnen Rindfleisch züchten, wäre da nicht das Preishindernis. In Fleischlaboren wie jenem Mirais wird viel mit Reagenzien gearbeitet, die eigentlich für die Medizin bestimmt sind. Viele gibt es derzeit nur in Pharmaqualität zum Apothekerpreis. "Manche Rohstoffe, die wir verwenden, kosten tausende Euro pro Gramm", sagt Mayr. Dabei würden für das Laborfleisch schon ein, zwei Qualitätsstufen darunter reichen. Mayr hofft, dass mit den vielen "Clean Meat"-Start-ups auch neue Lieferketten entstehen, die das Laborfleisch endlich erschwinglich machen.

Fokus auf Wurst und Hack

Bisher beschränken sich übrigens fast alle Laborfleischzüchter auf Faschiertes und Würste. Das hat einen einfachen Grund: Wird der Zellklumpen zu groß, kann die Nährlösung nicht mehr ins Innere vordringen, erklärt Mayr. Nach einer Lösung für das Problem wird noch gesucht. Trotzdem gibt es einen enormen Markt zu beackern: In den USA werden rund 60 Prozent des Rindfleischs zerhackt oder püriert in Form von Würstchen gegessen. In europäische Supermarktregale werden die Produkte von Mirai und Konsorten aber wohl erst in einigen Jahren kommen. Allein die Zulassung in der EU dauere zwei bis drei Jahre, merkt Mayr an.

Der konventionellen Agrarlobby sind die Fortschritte des neuen Zweigs naturgemäß ein Stachel im Fleisch – auch wenn manche Fleischkonzerne bereits selbst in die neuen Unternehmen investiert haben. Sie wollen erreichen, dass Laborfleisch stärker reguliert wird und anders genannt werden muss, sobald es in den Regalen landet. Einen kleinen Sieg für die Hersteller von "alternativem Protein" gab es vergangenes Jahr zu feiern: Das EU-Parlament entschied, dass auch Fleischersatz auf Soja- oder Erbsenbasis, den es schon heute gibt, Schnitzel oder Wurst heißen darf.

Wobei noch gar nicht klar ist, wie das Endprodukt aus dem Labor letztlich benannt wird. Vor allem im Englischen schwirren derzeit viele Begriffe herum: Von "clean" bis "lab-grown", "synthetic" und "cultured" oder "cultivated meat" ist die Rede.
Die Biotech-Größe Jack Bobo schlug vor, es einfach "craft meat" zu nennen – in Anlehnung an Craft-Bier. Und vielleicht ist es beim Fleisch tatsächlich wie beim Bier: Ein glühender Verfechter von Schlachtfleisch wird Craft-Fleisch ebenso wenig anerkennen wie ein Apologet des deutschen Reinheitsgebots ein belgisches Bananenbier. "Craft", so Bobo, soll vor allem eines vermitteln: Innovation. (Philip Pramer, 6.7.2021)