Ein Plakat für die Aktion "Alles gurgelt!" in Wien. Auch Bürgermeister Ludwig bewarb sie am Dienstag erneut.

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"Was Wien mit den Kindern aufführt, ist eine Frechheit", findet die Oma eines Volksschulkindes in Wien. Ihre Worte dringen in einer U-Bahnstation zwar durch eine Stoffmaske mit quietschbuntem Herzchenmuster. So fröhlich ihr Mundschutz auch aussieht, die durchklingende Stimme ist erbost. Die Stadt Wien schreibt seit 1. Juli vor, dass Kinder bereits ab sechs statt bundesweit ab zwölf Jahren für den Zutritt in Einrichtungen, die einen 3G-Nachweis verlangen, einen solchen bringen müssen. Wobei nur 2G (getestet oder genesen) erbracht werden können, denn geimpft wird in Österreich erst ab zwölf Jahren. ÖVP und FPÖ kritisieren den Wiener Sonderweg.

Der dafür verantwortliche Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) erklärte im Rathaus am Dienstag erneut seine Beweggründe: "Die Pandemie ist noch nicht vorbei", sagte Ludwig. An den Infektionszahlen sehe man, "dass die Abwärtsbewegung bei den Infektionen bereits beendet ist" und man sich auf einem Plateau befinde.

Wegen der Delta-Mutation sei zu befürchten, dass "mehr Menschen wieder ins Krankenhaus müssen", sagte der Bürgermeister. Der Blick auf die Impfzahlen zeige auch, dass noch nicht genug Menschen immunisiert seien. 678.000 Menschen sind in Wien laut Dashboard des Gesundheitsministeriums von Dienstag zweifach geimpft und haben daher einen sehr hohen Schutz gegen die Delta-Variante. Aber das seien noch nicht genug Immunisierte, sagte Ludwig. Österreichweit sind inzwischen 4,89 Millionen Menschen zumindest einmal geimpft worden, davon haben 3,39 Millionen einen vollständigen Impfschutz.

Virus ohne Ferien

Das Virus habe keine Schulferien, die Kinder wurden bisher in den Schulen getestet und werden das auch im Herbst wieder. "Sie sind genauso infektiös wie Erwachsene", man müsse daher im Sommer weitertesten, forderte Ludwig auf. Die Gurgeltests von "Alles gurgelt!" auf PCR-Basis seien in Wien flächendeckend verfügbar und das System international einzigartig. Zusätzlich könne man sich beim Arzt oder in Apotheken mit Antigentests testen lassen. Das Testen sei eine einfache Maßnahme, um die Infektionszahlen möglichst gering zu halten und die Wirtschaft wenig einzuschränken. Testen – am besten dreimal in der Woche – sei kostenlos und bedeute keine große zeitliche Belastung. Bei den PCR-Tests ließen sich Sequenzierungen herausnehmen, so könne man die Entwicklung der Mutation beobachten, was wichtig sei, um Infektionsketten zu durchbrechen.

Kinder als Treiber

Das regelmäßige Testen von Kindern und Jugendlichen mache Sinn, da diese genauso Treiber der Erkrankung sein könnten wie Erwachsene, untermauerte Michael Binder, Medizinischer Direktor des Wiener Gesundheitsverbunds. Kinder seien oft asymptomatisch, daher sei das Testen umso wichtiger.

Binder wies auch darauf hin, dass die Fallzahlen mehrerer Länder bereits wieder steigen, unter anderem in Spanien und Portugal, aber auch in Dänemark und der Niederlande. Ein Blick auf das niederländische Dashboard zeigt beispielsweise, dass am 27. Juni dort noch rund 500 Neuinfektionen gezählt wurden, am 5. Juli bereits das Dreifache. Russland, das Binder ebenfalls wegen steigender Infektionszahlen nannte, meldete am Dienstag 737 Corona-Todesfälle binnen 24 Stunden – so viele wie noch nie zuvor.

Zurück nach Österreich, wo die Fallzahlen derzeit ein ganz anderes Bild zeichnen: Am Dienstag wurden 84 Neuinfektionen verzeichnet (etwas über dem Wochenschnitt von 78), 128 Menschen mussten mit einer Corona-Infektion im Krankenhaus behandelt werden. Die Sieben-Tages-Inzidenz ist leicht angestiegen. Am Dienstag lag sie laut Gesundheits- und Innenministerium bei 6,1 pro 100.000 Einwohner. Seit Beginn des Monats war sie von 6,2 zunächst auf 5,3 gesunken.

"Gurgeln an allen Ecken"

Man müsse bedenken, dass in den Krankenhäusern nun Eingriffe nachgeholt würden, die zuvor wegen der Pandemie verschoben wurden, sagte Sylvia Hartl, Vorständin der Abteilung für Atemwegs- und Lungenkrankheiten der Klinik Penzing. Aktuell würde es reichen, dass zehn Prozent der ungeimpften Menschen erkranken, um in Wien wieder in eine Notsituation bei den Spitalsbetten zu gelangen. Auch Hartl appellierte an die Bevölkerung: "Es ist erforderlich, dass gegurgelt wird an allen Ecken und Enden." Und es sollten so viele Menschen zur Impfung gehen wie nur möglich.

Sie habe über Kollegen von einzelnen Fällen bei Kindern gehört, die schwer immunkrank geworden seien, und habe mit Erwachsenen zu tun, die schwerkrank seien und "vermutlich nicht mehr ganz gesund werden und nicht mehr ins Berufsleben zurückkehren werden". Im Krankenhaus brauche man "eine Welle, die so flach wie möglich ist".

Diesen Argumenten konnte Dominik Nepp, Landesparteiobmann der FPÖ-Wien, aber auch am Dienstag einmal mehr nichts abgewinnen. Der Testzwang bei Kindern ab sechs Jahren, um zum Beispiel ins Freibad zu gehen, sei "ungeheuerlich". Ludwig solle die Freiheitsbeschränkung der Wienerinnen und Wiener beenden. (spri, 6.7.2021)