Am Sonntag klärt sich, wer der diesjährige Fußballeuropameister wird. Darüber spekulieren nicht nur Fans, sondern auch Forscher. So rechnete etwa das Karlsruher Institut für Technologie das Turnier mit einem Algorithmus aus der Bioinformatik durch, mit dem normalerweise evolutionäre Beziehungen verschiedener Arten rekonstruiert werden.

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Letztendlich muss bei jedem Fußballspiel das Runde ins Eckige. Was bei der aktuellen EM der Männer mit ihrem Eigentorrekord zu betonen wäre: bitte ins Tor des Gegners.
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Dabei kam man zu dem Schluss: Am wahrscheinlichsten schafft es Frankreich ins Finale. Ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung der Universität Innsbruck kürte die Équipe Tricolore am Ende ihrer Berechnungen sogar zum Favoriten: Die Wissenschafter kombinierten verschiedene statistische Modelle über die Spielstärken der Nationalmannschaften sowie sozioökonomische Faktoren der jeweiligen Länder. Damit simulierten sie das gesamte Turnier hunderttausende Male. Mit einer Quote von 14,8 Prozent ergab sich dabei Frankreich als wahrscheinlichster Sieger. Bekanntlich kam es aber anders.

"Es liegt in der Natur von Prognosen, dass sie auch danebenliegen können", sagt der Statistiker Achim Zeileis, der den österreichischen Beitrag zur Studie leistete. "Wir liefern eben Wahrscheinlichkeiten, keine Gewissheiten. Und eine Gewinnwahrscheinlichkeit von 15 Prozent heißt zugleich, dass die Mannschaft zu 85 Prozent nicht Turniersieger werden kann." Wenn sich die Ergebnisse immer leicht vorhersagen ließen und stets der Favorit gewinnen würde, wäre dieser Sport sehr langweilig. Der frühere deutsche Bundestrainer Sepp Herberger soll schon gesagt haben: "Die Leute gehen zum Fußball, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht."

Glück beim Münzwurf

Kicker brauchen also immer auch ein gewisses Quäntchen Glück, um erfolgreich zu sein, wie eine Studie des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn zeigt. Die deutschen Forscher werteten 207 Elfmeterschießen in internationalen Fußballwettbewerben aus und kamen zu dem Schluss: Wenn ein Kapitän sich nach Gewinn des Münzwurfs dafür entscheidet, dass seine Mannschaft zuerst schießen soll, bringt das keinen großen Vorteil. Nur in 51 Prozent dieser Fälle gewann die Mannschaft.

Ein größerer Erfolgsfaktor ist dagegen das Ergebnis des Münzwurfs selbst: Zirka 60 Prozent der Teams, die diesen gewannen, siegten am Ende – vermutlich, weil der Kapitän so noch einmal die Möglichkeit bekommt, eine letzte strategisch richtige Entscheidung zu fällen.

Neben dem Münzwurfergebnis wurde der Faktor Zufall auch in anderen Aspekten untersucht: In einer Studie der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS) wurden die 7263 Tore, die in der englischen Premier League in den Saisonen 2012/13 bis 2018/19 gefallen sind, analysiert und dabei ermittelt, welche Rolle im Einzelnen der Zufall spielte. Wie viele der Treffer waren Eigentore, Elfmeter und Abpraller oder wurden vom Gegenspieler vorbereitet beziehungsweise abgefälscht? Das war bei ganzen 46 Prozent aller Tore der Fall.

Zufallstreffer nehmen ab

Deshalb ist es für Studienleiter Daniel Memmert auch so relevant, sich diese Zufallsprodukte genauer anzusehen: "Zu 99 Prozent untersucht die Sportwissenschaft das, was man selbst in der Hand hat — wie Taktik oder Motivation. Den Zufall hat man per Definition nicht in der Hand." Daher lagen dazu bisher kaum Daten vor, ein Defizit, das der Forscher tilgen wollte. Es zeigt sich eine interessante Tendenz: Zufallstreffer nehmen ab — im Laufe der letzten zehn Jahre sank ihr Anteil von 50 auf 44 Prozent.

Memmert vermutet, dass das mit der fortschreitenden Professionalisierung zusammenhängt: "Die naheliegendste Erklärung ist, dass es heutzutage viele Analysen gibt, die eine große Bedeutung in der Vor- und Nachbereitung des Spiels haben. Diese ganzen Abteilungen konnten in den Vereinen an Manpower gewinnen. Und durch diese Matchpläne kennen die Teams ihre Stärken und Schwächen sehr gut. Vielleicht passiert somit etwas weniger Zufälliges, weil viel mehr geplant ist." Das zeige sich auch daran, dass in der Regel eher die schwächeren Teams Zufallstore erzielen.

Möglicherweise könnte sich die Anzahl solcher Treffer aber wieder erhöhen: Ausgehend von der Rolle des Zufalls, die der Studie zufolge nach wie vor groß ist, sei es laut Memmert denkbar, dass nun Sportwissenschafter in Zusammenarbeit mit den Trainern vermehrt Spielformen erarbeiten, mit denen man Zufallstore provoziert. Vielleicht hat sich damit bei diesem Turnier schon ein Trend abgezeichnet: Bei keiner Europameisterschaft fielen bislang so viele Eigentore wie heuer.

Kreativität und Köpfchen sind gefragt

Alles dem Zufall überlassen kann man im Fußball natürlich auch nicht – das würde ein unschönes Gerumpel ergeben. Somit ist, um auf dem Rasen weiterhin erfolgreich zu sein, Kreativität gefragt. Diesen Aspekt erforschte die DSHS unlängst in Kooperation mit dem Institut für Psychologie der Universität Graz. Hier wurde untersucht, welche Gehirnregionen aktiv werden, wenn intelligente Spielentscheidungen getroffen werden.

Da solche Messungen nicht im vollen Lauf auf dem Feld möglich sind, mussten die Probanden im Labor einen speziell entwickelten Test absolvieren: Fußballerinnen und Fußballern wurden verschiedene Spielsituationen gezeigt, die sie möglichst schnell mit einem Torerfolg zu Ende führen sollten. Und so zeigte sich in der Untersuchung, dass diese Entscheidungen keine reinen Bauchentscheidungen sind, sondern dass dabei im Oberstübchen viel passiert.

Studienleiter Andreas Fink berichtet: "Wir konnten sehen, dass Gehirnfunktionen, die mit Aufmerksamkeit, Erinnerung, visuellen Prozessen, aber auch der Verarbeitung von Informationen zu tun haben, auch hier sehr wichtig sind — dabei sind weitverzweigte Netzwerke aktiv." Neben der körperlichen Fitness sind also kognitive Fähigkeiten nicht zu vernachlässigen, wenn es darum geht, sich den entscheidenden Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.

Derzeit wird noch Grundlagenforschung betrieben, aber Fink hofft, dass sich diese theoretischen Ergebnisse auch in der Praxis anwenden lassen: "Längerfristig könnten unsere Ergebnisse dabei helfen, ein ausgewogenes Training zu entwickeln, das sowohl körperliche als auch psychologische Leistungen miteinbezieht, sodass der Spielerfolg optimiert werden kann." Im Fußballtraining gibt es also vielleicht bald mehr Gehirnjogging. (Johannes Lau, 10.7.2021)