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Englands Raheem Sterling (links) und Italiens Jorginho – wer wird sich am Sonntag durchsetzen?

Foto: AP Photo/Alastair Grant

Euro-Ticker, das Finale: Italien vs. England, So., 21 Uhr

Wien – Die Erfassung und Analyse von Sportdaten ist heute ein Milliardengeschäft. Die Vereine und Verbände selbst, Medien, Wettbüros oder Fantasy-Sport-Plattformen zahlen gutes Geld, um auf die detaillierten Statistiken von Anbietern wie Stats Perform, Sportradar oder Opta zurückzugreifen. Fast immer ist das Ziel der Übung, aus vergangenen Ereignissen Aussagen über künftige Partien abzuleiten. Das haut freilich nicht immer hin.

Auch die Vorhersagen für die am Sonntag endende Fußballeuropameisterschaft alterten nicht besonders gut. Noch nach dem ersten Gruppenspieltag bezifferte das Prognosemodell von Stats Perform die Wahrscheinlichkeit auf aggregierte 73,9 Prozent, dass am 11. Juli der Kapitän einer der sechs Top-Favoriten die Henri-Delaunay-Trophäe in den Londoner Nachthimmel strecken würde.

Tatsächlich schieden aus dem Sextett mit Frankreich, Deutschland, Portugal und den Niederlanden bereits vier im Achtelfinale aus. Für Belgien war im Viertel-, für Spanien im Halbfinale Schluss. Die nunmehrigen Finalisten Italien und England konnten mit einer 6,8- beziehungsweise 5,8-prozentigen Chance auf den Titel höchstens als Geheimtipps gelten.

Wenn die Interpretation des Geschehenen schon der hochentwickelten künstlichen Intelligenz kaum gelingt, können wir es mit einer völlig naiven menschlichen Deutung der Zahlen auch versuchen. Wir haben aus dem offiziellen Uefa-Datenbestand des bisherigen Turnierverlaufs zehn zentrale Indikatoren ausgewählt, addieren die Werte Italiens und Englands und messen, welche Anteile an den jeweiligen Summen die beiden Nationen für sich verbuchen.

I. Ballbesitz

Natürlich gibt es Ausnahmen, doch tendenziell setzt die Mannschaft mit hohem Ballbesitz und also großem Beitrag zur Spielgestaltung diesen Vorteil häufig in Zählbares um. Laut Berechnungen des in der Schweiz ansässigen Internationalen Zentrums für Sportstudien (CIES) erzielen Teams je nach Liga ab 60 Prozent Ballbesitz durchschnittlich 0,6 bis 0,9 Tore mehr als ihre Gegner. Ganz so hoch haben die Finalteilnehmer ihren mittleren Ballbesitz nicht geschraubt, und sie unterscheiden sich in diesem Aspekt auch nicht stark: Italien kam bisher auf 52,3 Prozent, England auf 54,2 Prozent.

II. Gewonnene Bälle

Ein Gradmesser für erfolgreiches Pressing ist die Zahl der Bälle, die aus der Angriffsbewegung des Gegners zurückgewonnen werden können. Koordiniert wird diese Aufgabe in den meisten Taktiksystemen vom Sechser im defensiven Mittelfeld. Der Squadra Azzurra, in der Jorginho damit befasst ist, gelang das summiert 249-mal, den Three Lions, wo sich Kalvin Phillips und Declan Rice den Auftrag teilen, 222-mal.

III. Erlittene Fouls

"Wenn du kritisiert wirst, musst du irgendetwas richtig machen. Denn man greift nur denjenigen an, der den Ball hat", soll schon Fußballexperte Bruce Lee gesagt haben. Zwar ist das Bonmot erstens sehr frei übersetzt – im Englischen ist es als "… people attack anyone who has brains" kolportiert – und zweitens nicht einmal als Zitat Lees belegt. Ganz falsch ist es aber nicht. Denn naheliegenderweise wird das dominierende und ballführende Team vom schwächeren Gegner häufiger angegriffen und gefoult als umgekehrt. Die italienischen Spieler erlitten in den sechs Spielen vor dem Finale 88 Fouls, die englischen 70.

IV. Passgenauigkeit

Schon im Nachwuchs ist der Passdrill in den Trainingseinheiten obligat. Die Genauigkeit der Ballabgabe soll als Automatismus in das Bein übergehen, denn Fehlpässe sind ein ausgesprochener Quell von Gegentoren. In der Offensive ist laut der vorhin genannten Auswertung des CIES-Instituts die Passgenauigkeit sogar ein noch wichtigeres Erfolgskriterium als der reine Ballbesitz. England und Italien erzielen hier mit durchschnittlich 87,7 und 86,3 Prozent Spitzenwerte.

V. Flankengenauigkeit

Wie Fehlpässe sind auch verunfallte Flanken ursächlich für Gegenangriffe und Torgefahr durch Konter. Gleichzeitig ist es sehr viel schwieriger, hohe und weite Bälle an den Mitspieler zu übergeben als Pässe, die teilweise nur über wenige Meter gehen. Dementsprechend niedriger sind auch die Quoten bei der Flankengenauigkeit. England ist mit 32,8 Prozent gegenüber Italien mit 28,8 Prozent wieder leicht im Vorteil.

VI. Dribblings

Als Dribblings werden Aktionen bezeichnet, bei denen ein Spieler über eine längere Strecke an Gegnern vorüberzieht, ohne die Kontrolle über den Ball zu verlieren. Italien gelangen bei der Europameisterschaft bisher 99 erfolgreiche Dribblings, England schaffte mit 93 nur geringfügig weniger.

VII. Angriffe

Als Angriffe versteht man alle zusammenhängenden Sequenzen mit dem Zweck, ein Tor zu schießen. Das sei doch grundsätzliches Ziel dieses Sports, mag ein berechtigter Einwand sein. Jein. Denn um nicht zu verlieren, genügt es in der Praxis schon, sich auf Defensivstrategien zu beschränken. Und selbst wenn man gewinnen will, kann man auf Angriffe verzichten und auf einen Aussetzer wie jenen von Spaniens Goalie Unai Simon im Achtelfinale gegen Kroatien hoffen. In den sechs bisherigen Partien zählte die Uefa bei Italien jedenfalls 318 Angriffe, bei England bloß 256.

VIII. Schüsse

Teil der meisten Angriffe sind die Schüsse (weitgehend Synonym mit "Abschlüssen". Oder mit "Versuchen", wobei die als "attempts" im englischen Sprachraum üblicher sind). Dabei reicht es schon, wenn sich der Ball nur sehr ungefähr dem gegnerischen Tor nähert. Hier herrscht das größte Ungleichgewicht aller Kennzahlen. Italien gab mit 108 Stück nahezu doppelt so viele Schüsse ab wie England mit 58. Selbst Österreich gelangen 53 Versuche, obwohl dazu zwei Spiele weniger Gelegenheit bestand.

IX. Torschüsse

Bewegen wir uns näher an das Gestänge. Torschüsse ("on target") bilden jenen Anteil an der vorangegangenen Kategorie, der ohne Zutun der Gegenspieler im Tor enden würde. England verringert dabei die Schere, ganz ausgewogen ist das Verhältnis bei 25 gegenüber 40 italienischen Torschüssen aber noch nicht.

X. Torverhältnis

Am Ende zählt im Fußball nur, ob man mehr Tore macht als der Gegner. Und da ist der italienische Offensivvorteil plötzlich futsch. Im Laufe des Turniers bauten sowohl Italien (zwölf erzielte bei drei erhaltenen Treffern) als auch England (zehn zu eins) ihr Torverhältnis auf plus neun aus.

XI. Gesamt

Im Resümee zeigt sich bei den Angriffsindikatoren ein Vorteil Italiens. Die Zeiten des Catenaccio scheinen vorbei, es werden wenige Gegentore zugelassen, selbst wenn hinten kein Riegel steht, sondern in der gegnerischen Hälfte gezaubert wird. Die in Italien aus der Mode gekommene Taktik wird diesmal vielleicht noch eher von England angewandt. Southgates Elf entsagt dem großen Offensivfeuerwerk und verteidigt so kompakt, dass sie bei der Euro nur ein Tor hinnehmen musste; ihr entscheidender Vorteil könnte die Effizienz nach vorne sein.

Im rein rechnerischen Durchschnitt kommen wir bei unseren zehn Statistik-Indikatoren ungewichtet auf ein Verhältnis von 53 zu 47 Prozent für Italien. Zu knapp, um von einem klaren Favoriten zu sprechen. Ein Ergebnis mit einer hohen Tordifferenz ist äußerst unwahrscheinlich. Weniger überraschend wäre es, wenn die Partie wie schon sieben der bisherigen 14 K.-o.-Duelle bei diesem Turnier in die Verlängerung ginge. (Michael Matzenberger, 11.7.2020)