Der notorische Netzaktivist, Iro-Träger und "Spiegel"-Kolumnist Sascha Lobo brachte das Phänomen selbstkritisch auf den Punkt: "Auf einen rechtsextremen Mord folgt linke Empörung, auf einen islamistischen Mord folgt eine stille, linke Zerknirschtheit, wie man sie Erdbebenopfern entgegenbringt." Damit beschreibt er eine Reaktion, als hätte man es mit einer Naturkatastrophe zu tun, die man als eine Art "höhere Gewalt" eben hinnehmen müsse.

Man braucht nicht weit zurückzuschauen, um Lobos These bestätigt zu finden: Nach dem tragischen Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd bei dessen Festnahme durch weiße Polizisten demonstrierten Tausende wochenlang in- und außerhalb der USA gegen Rassismus und Polizeigewalt, inklusive schwerer Ausschreitungen und Plünderungen, auch durch die US-amerikanische, mehrheitlich weiße Antifa, auch gegen Geschäfte von Afroamerikanern.

Verniedlichungsrassismus statt klarer Kante

Verglichen damit fiel etwa das linke Echo auf die minutiös geplante, barbarische, islamistisch motivierte Hinrichtung des Lehrers Samuel Paty, der mit seinen Schülern über Meinungsfreiheit diskutieren wollte und ihnen im Zuge dessen, inklusive Triggerwarnungen, die Mohammed-Karikaturen des Satiremagazins "Charlie Hebdo" gezeigt hatte, geradezu kümmerlich – und schlimmer noch – relativierend aus. Jemand schrieb tatsächlich: "Sind nicht der Kapitalismus und sein Umgang mit armen Menschen und Ländern am islamistischen Extremismus schuld?" Oft ist dann auch von Psychosen oder Traumata die Rede.

Man stelle sich derlei Wortmeldungen bitte mal nach Christchurch, Hanau oder Utøya vor. Dies, so Lobo in seinem Kommentar, sei eine Form von "Verniedlichungsrassismus", wenn man muslimischen Menschen und ganzen Ländern vollständig die Verantwortung für ihr eigenes Handeln abspricht und stattdessen offenbar glaubt, alles, was auf der Welt geschieht, sei ausschließlich eine Reaktion auf den bösen Kapitalismus der weißen Europäer und Amerikaner. Einem Kapitalismus übrigens, dem auch die Erdölmilliardäre auf der arabischen Halbinsel ihren märchenhaften Reichtum zu verdanken haben, der sie allerdings auch nicht dazu bewegen vermochte, auch nur einen ihrer syrischen oder irakischen Glaubensgeschwister auf der Flucht aufzunehmen.

Im Drei-Minuten-Interview mit dem "Biber" äußerte sich die 17-jährige Landesschülervertreterin Sihaam Abdillahi über den islamistischen Terroranschlag in Wien. Sie sei "happy darüber", dass es (in der Schule) zu keiner Diskussion über das Attentat gekommen sei: "Dadurch wurde ich nämlich nicht unter Druck gesetzt, mich öffentlich distanzieren zu müssen."

Wie bitte? Mit dieser Aussage offenbart die sich als "Flint" – steht für Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre und trans Personen – definierende 17-jährige Kopftuchträgerin mit somalischen Wurzeln, dass ihr die eigene Komfortzone wichtiger ist als Anteilnahme mit den Getöteten vom 2. November 2020. Einer Anteilnahme, die in jeder zivilisierten Welt eine Selbstverständlichkeit darstellen sollte, aber längst auch innerhalb der Linken keine mehr ist.

Im selben Text gibt sie dann auch zu – als wäre es das Normalste der Welt – selbst durchaus Leute in ihrem Umfeld zu kennen, die extremistische Meinungen teilen und beispielsweise finden, dass der Lehrer Paty nach dem Zeigen der Mohammed-Karikaturen seine Enthauptung durchaus verdient habe. Stattdessen meinte Abdillahi bezugnehmend auf die Polizeirazzien im österreichischen Jihadisten-Milieu wenige Tage nach dem Attentat: "Die Regierung spielt mit dem Feuer!" Solidarität mit den Opfern und ihren Hinterbliebenen? Verurteilung der Attentäter? Fehlanzeige.

Am 2. November 2020 kam es in Wien zu einem islamistischen Terroranschlag. Kritik am Islam gab es von Linken kaum.
Foto: derstandard/Christian Fischer/foto@fischerfoto.com

Ignoranz statt Toleranz

Dieselben Menschen, mit denen man drei Tage und Nächte über Gender als soziales Konstrukt diskutieren kann, sind in Anbetracht offenkundiger Geschlechterapartheid, strenger Verhaltens- und Kleidervorschriften bis hin zu Beschneidungen für Mädchen und Frauen in weiten Teilen der muslimischen Community plötzlich ungemein kleinlaut beziehungsweise genervt, wenn man ein bisschen genauer nachfragt, wie sich das für sie, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit Geschlechtergleichheit einfordern, eigentlich ausgeht.

An dieser Stelle möchte ich zu einem kleinen Gedankenexperiment einladen: Wären dieselben Verhaltens- und Kleidervorschriften für Mädchen und Frauen zum Beispiel von der katholischen Kirche erlassen worden, wären die Reaktionen derselben Blase mit Sicherheit um ein Vielfaches vehementer und emanzipatorisch deutlicher ausgefallen. Ein Blick nach Polen genügt, wo es massive Proteste von links bis weit in die Mitte hinein gegen die rechtskonservative Regierung gibt, die im Schulterschluss mit der katholischen Kirche des Landes gerade das Recht von Frauen auf Abtreibung verunmöglicht hat.

Warum aber ist man beim Islam scheinbar so "tolerant", dass man sich schon mal gegen ein Kopftuchverbot für Kleinkinder an Kitas stark macht und dabei tatsächlich glaubt, etwas Gutes zu tun?

Fixe Gruppenidentitäten statt Individuen

Die Weltsicht jener personell überschaubaren, medial aber omnipräsenten, momentan noch den Diskurs dominierenden identitätspolitischen Linken beruht auf zwei großen Irrtümern. Der erste liegt in ihrem antiindividualistischen Denken, dass von starren Gruppenidentitäten mit fixen Eigenschaften ausgeht, und der Einteilung dieser festgeschriebenen Identitäten in potenzielle Täter- und Opfermilieus. Muslime werden in dieser brutal simplifizierten Weltsicht durchwegs als Opfer gehandelt (ob sie wollen oder nicht), und wem einmal der Opferstatus zuerkannt wurde, hat in der Identitätspolitik immer recht. Alle anderen dürfen dann höchstens noch zuhören.

Der zweite Irrtum liegt im gnadenlosen Hypermoralismus jener Blase begründet, mit dem schon bei kleinsten Abweichungen die eigenen Mitglieder vor das Social-Media-Standgericht gezerrt werden. Gedankenverbrechen und Kontaktschuld sind dort keine Orwell’sche Dystopie, sondern längst gang und gäbe. Dies führt zu einem ideologischen Streamlining, dass man bisher eher aus klassisch totalitären Kontexten kennt. Aus diesen Denktunneln erwachsen dann auch so schiefe aber effektive Begriffskonstrukte wie "antimuslimischer Rassismus", wobei letzterer jeden kritischen Analyseversuch des politischen Islam als fremdenfeindlich und xenophob zu diskreditieren versucht – auch jene von Kritikern wie etwa Hamed Abdel Samad oder Necla Kelek, die selbst aus muslimisch geprägten Gesellschaften stammen.

Angst legt das Denken lahm, denn jede Diskriminierung von Menschen, die religiös konnotierte Zeichen wie etwa Kippa oder Kopftuch im öffentlichen Raum tragen, ist eine zuviel. Doch religiöse Bekenntnisse, ihre Symbole und Reaktionen auf diese dann zu rassifizieren und in einen Term wie "Antimuslimischer Rassismus" zu gießen, ist schon ein echter Coup. Welche "Rasse" soll denn "Moslem" bitte sein? Gibt es dann auch "Jude", "Christ" oder "Hindu" als Phänotyp? Brauche ich bald einen Agnostiker-Nachweis? Sie sehen schon wo das hinführt. Doch wo es der eigenen Agenda nützt, werden auch Fakten plötzlich sehr biegsam. Auch der Begriff "Islamophobie" ist ein solches Kunstwort, dass jede kritische Auseinandersetzung, die sich in einer aufgeklärten Gesellschaft alle (!) Religionen und Ideologien gefallen lassen müssen, in die Nähe des Pathologischen rückt.

Diese dem Postkolonialismus entsprungenen Denkmuster sind weit vor dem "post" vor allem insofern kolonialistisch, als sie den betroffenen Menschen aus den identifizierten "Opfergruppen" in ihrem Top-down-Protegismus sogar absprechen, durchaus auch einfach bösartig, dumm oder beides sein zu können. Jene ausgestellte und auf europäische und/oder "weiße" Kollektivschuld fußende Selbstgeißelung berauscht sich auf gebrochene Weise ständig an seiner eigenen in Selbsthass eingelegten Überlegenheit.

Angst legt das Denken lahm

Leider ist der Mensch auch nur ein Herdentier – und das besonders auf Social Media, wo die Schwarmintelligenz regiert. Die Angst, von der eigenen Bubble oder Community gecancelt zu werden, verhindert dort sehr erfolgreich freies Schlussfolgern. Statt sich, wie es vor nicht allzu langer Zeit einmal üblich war, mit anderen Positionen als der eigenen argumentativ und ergebnisoffen auseinanderzusetzen, bleibt man lieber unter sich. "Einem Max Mustermann vom ORF würde ich kein Interview geben", so die schon oben genannte Landesschulsprecherin Wiens im selben "Biber"-Interview, denn: "So jemand habe keine Ahnung von Rassismus und Diskriminierung." Mit dieser Haltung entblößt sie ein Denkmuster, das einem FPÖ- oder Identitären-Sprecher, der etwa meint, einer Nada El-Azar vom "Migrantenblatt" "Biber" würde er kein Interview geben, denn die habe ja keine Ahnung von, tja, was auch immer, in nichts nachsteht.

Die französische Journalistin, Feministin und lesbische Linksaktivistin und ehemalige "Charlie Hebdo"-Mitarbeiterin Caroline Fourest sagte in der "Taz" anlässlich ihres aktuellen Buches "Generation beleidigt": "Früher ging es in linken Jugendkulturen darum, die Zensurversuche religiöser oder patriarchaler Tyrannen lächerlich zu machen. (…) Heute halten junge Linke antireligiöse Zeichnungen für respektlos. Die Bigotten haben die Herzen und Hirne junger Antirassisten erobert. Anstatt in Ideen wird in Identitäten gedacht."

Eine identitäre Linke, die durch moralische Selbstüberhöhung und intellektuelle Kurzatmigkeit offensichtlich nicht mehr in der Lage ist, alle Erscheinungsformen von Autoritarismus und Faschismus, zu denen mit seiner religiösen Beschichtung eben auch der politische Islam zählt, zu identifizieren und ihnen entgegenzutreten, hat jeden positiven Einfluss auf die Gesellschaft verspielt.

Wer sich nur noch dafür interessiert, wer etwa aufgrund der eigenen ethnischen Identität noch Cornrows, Tunnels oder Dreadlocks tragen darf und wer aufgrund von Hautfarbe oder Geschlecht und nicht etwa Expertise Gedichte übersetzen darf oder nicht, ist längst Teil des Problems und überlässt dem munter und immer diverser sprießenden Garten der Halb- und Vollrechten – ob Populisten, Nationalisten, Islamisten oder Identitären – eine wichtige Flanke, die jene dann ausnutzen, um wiederum als Opfer, Ausgegrenzte oder Märtyrer eine schon stark polarisierte Gesellschaft noch weiter zu spalten.

Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der SPD-Jusos, äußerte sich dazu in einem Gastbeitrag, ebenfalls im "Spiegel": "Will die politische Linke den Kampf gegen den Islamismus also nicht länger Rassisten und halbseidenen Hobbyislamforschern überlassen, dann muss sie sich endlich gründlich mit dieser Ideologie als ihrem wohl blindesten Fleck beschäftigen."
Dem ist nichts weiter hinzuzufügen. (Alexander Keppel, 14.7.2021)