Die Politik des äthiopischen Regierungschefs und Friedensnobelpreisträgers Abiy Ahmed liegt in Trümmern. Das ist vor allem der überraschenden Niederlage seiner Truppen in der Tigray-Provinz zuzuschreiben, die der Premierminister bereits vor einem halben Jahr befriedet haben wollte. Abiy hatte versucht, die sich seiner zentralistischen Politik widersetzende Führung der Provinz als den gefährlichsten seiner politischen Gegner militärisch auszuschalten: Jetzt muss der Regierungschef außer mit Tigrays Sezession auch noch mit weiteren ethnischen Konflikten rechnen.

Regierungschef und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed in politischer Bedrängnis.

Um das völlige Auseinanderbrechen des ostafrikanischen Vielvölkerstaats nach dem Vorbild Jugoslawiens zu vermeiden, soll sich Abiy Ahmed inzwischen zu einem "nationalen Dialog" bereit erklärt haben: Den hätte der mit 44 Jahren jüngste Regierungschef Afrikas in den Augen vieler bereits nach seiner Berufung zum Premierminister vor drei Jahren aufnehmen sollen. Ob dem wiedergeborenen Christen nach einer ganzen Serie nachweislicher Lügen über die Vorgänge in der Tigray-Provinz inzwischen noch jemand traut, ist allerdings fraglich.

Geht es nach der siegreichen Volksbefreiungsfront in Tigray (TPLF), sind die Tage Abiy Ahmeds ohnehin gezählt. Der umstrittene Regierungschef werde sein Waterloo in der Bürgerkriegsprovinz politisch nicht überleben, sagte TPLF-Sprecher Getachew Reda im Gespräch mit dem STANDARD. Von einem schnellen Exitus werde ihn jedoch sein voraussichtlicher Wahlsieg bewahren, heißt es dagegen in Diplomatenkreisen Addis Abebas.

Warten auf den Samstag

Abiys neu gegründete Partei, die "Prosperity Party", soll bei dem begrenzten Urnengang – nur Dreiviertel der Wahlberechtigten konnten ihre Stimme abgeben – eine klare Mehrheit erhalten haben. Allerdings hatten mehrere Oppositionsparteien die Abstimmung boykottiert. Erste Ergebnisse des am 21. Juni veranstalteten Urnengangs sollen am Samstag bekannt gegeben werden.

Wesentlich unberechenbarer sind für Abiy die weiteren Entwicklungen in Tigray. Dort feierte die TPLF ihren Triumph mit der Parade mehrerer tausend gefangener Regierungssoldaten durch die Provinzhauptstadt Mekelle: Hier hat die TPFL-Führung inzwischen die Regierung wieder übernommen.

Dabei ist allerdings noch längst nicht die ganze Provinz befreit: In der Nähe der Grenze im Norden harren auf Tigrays Boden noch eritreische Truppen aus. Und den Westen der Provinz haben sich Milizen der benachbarten Amharer angeeignet. Sie seien vor 30 Jahren von Tigrays Regierung von dort vertrieben worden sein, sagen sie. Der Landstrich, der ein gutes Drittel der Provinzfläche ausmacht, ist für die TPLF lebenswichtig: Er gilt nicht nur als Tigrays Kornkammer, sondern bietet auch einen Zugang zum Nachbarland Sudan.

Zwischen Feinden eingepfercht

Dessen Regierung ist der TPLF noch aus alten Zeiten wohlgesonnen. Ansonsten ist die Provinz zwischen Feinden eingepfercht: Im Süden Äthiopien, von dem sich viele Tigray nach den Erfahrungen der vergangenen Monate lossagen wollen. Im Norden Eritrea, dessen Soldaten sich als die schlimmsten Schlächter, Diebe und Frauenschänder herausstellten.

TPLF-Sprecher Getachew kündigte an, seine Kämpfer würden die eritreischen Soldaten notfalls bis in deren Hauptstadt Asmara verfolgen. So solle sicher gestellt werden, dass die nachbarliche Streitmacht auf absehbare Zeit keine Gefahr für Tigray mehr darstelle, sagte Getachew.

Auch gegen einen Regimewechsel beim eritreischen Nachbarn, dem der seit 30 Jahren ungewählt herrschende Diktator Isaias Afwerki zum Opfer fallen könnte, hätte die TPLF nichts einzuwenden. Allerdings deutet in Eritrea bislang noch nichts auf einen Sturz des Autokraten hin. Und die berüchtigten Truppen des Nachbarn zogen sich bislang auch noch nicht wieder auf eigenes Gebiet zurück.

Hungersnot

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Regierungen Äthiopiens und Eritreas die Tigray-Provinz tatsächlich in Ruhe lassen wollen – oder nur ihre Strategie geändert haben. Sie könnten Tigray auszuhungern suchen, fürchten Experten: Eine Brücke nach Äthiopien wurde bereits zerstört, Internet- und Mobilfunkverbindungen sind unterbrochen, mit Nahrungsmittelhilfe beladene Lastwagen haben Schwierigkeiten, in die hungernde Provinz zu kommen.

Dort sind mehr als fünf Millionen Menschen dringend auf Hilfe angewiesen, heißt es bei der UN: 400.000 Menschen litten bereits Hunger. In Tigrays Hospitäler werden immer mehr Kinder mit akuter Mangelernährung eingeliefert, mehrere sollen bereits den Hungertod gestorben sein. Der "Waffenstillstand", den die äthiopische Regierung in Tigray erklärt hat, drohe zu einer "Belagerung" zu werden, sagte Washingtons UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield. "Wir werden dem Horror in Tigray nicht untätig zusehen", fügte Robert Godec, Unterstaatssekretär für Afrika im State Department, hinzu. Was das im konkreten Fall bedeutet, sagte er nicht. (Johannes Dieterich, 8.7.2021)