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Ein Checkpoint der afghanischen Armee nahe der am 2. Juli von den USA verlassenen Militärbasis Bagram. Das geringe Vertrauen zur nationalen Armee führt bereits dazu, dass sich lokale Milizen bilden.

Foto: Reuters / Mohammad Ismail

Bilder wie jene der chaotischen Evakuierung des US-Personals in Saigon 1975 sind den Amerikanern aus Afghanistan bisher erspart geblieben. Rühmliches lässt sich über das Ende des zwanzigjährigen US-Einsatzes dennoch nicht sagen. Glaubt man den afghanischen Behörden, dann hat die US-Armee den Stützpunkt Bagram – Epizentrum ihrer Militärmission – am 2. Juli nicht über-, sondern aufgegeben. Wie sie ja im Grunde ganz Afghanistan und die Kriegsziele aufgegeben hat, die sie nach 9/11 im Herbst 2001 in das Land führt haben.

Eine "sich entfaltende Tragödie" nannte die Washington Post in einem Leitartikel, was sich gerade in Afghanistan abspielt. Die USA scheinen sich mit der Unvermeidlichkeit abgefunden zu haben, dass die Taliban wieder die Macht übernehmen. Niemand will auf den Fortbestand der Regierung von Ashraf Ghani in Kabul wetten. Die Taliban sind schon länger wieder auf dem Vormarsch, parallel zum Abzug der USA und ihrer Verbündeten hat er sich beschleunigt. Sie greifen die ersten größeren Provinzstädte an, was den Abmachungen des von den USA eingeleiteten Friedensprozesses mit Ghani klar widerspricht.

Nicht mehr die gleichen?

Aber sind es noch die gleichen Taliban, die von den USA gestürzt wurden, weil sie die Terrororganisation Al-Kaida – die am 11. September 2001 die USA angegriffen hatte – beherbergten? Für jene Afghanen und besonders Afghaninnen, die sie fürchten, darunter auch die schiitische Volksgruppe der Hazara, bedeutet die Entwicklung, die Veränderungen, die manche Experten den Taliban zusprechen, keine Beruhigung.

Sie mögen Lehren aus der Vergangenheit gezogen haben, nicht mehr die wilde Gotteskriegertruppe von früher sein, sondern professioneller, kontrollierter agieren. Wo sie sich wieder ausbreiten, wollen sie offenbar nicht sofort die gesamte Bevölkerung verstören. Sie achten darauf, dass alles weiterläuft. Sie werden ihren Staat – ein islamisches Emirat – allein als afghanisches Projekt von innen bauen; das heißt, nicht von internationalen Jihadisten, wie damals von Al-Kaida, übernehmen lassen – die USA verbuchen das als Erfolg.

Die Taliban beteuern auch, die Hauptstadt Kabul nicht militärisch einnehmen zu wollen. Dass sie dort hinwollen, ist dennoch klar. An ihre Werteordnung, ein Gemisch aus radikalem Islam und paschtunischen Stammesbräuchen, sollen sich die Menschen langsam wieder gewöhnen. Dass die Frauen wieder zu Hause bleiben müssen, ist aber nur der erste Schritt, und der ist in den von ihnen kontrollierten Gebieten – etwa die Hälfte der Verwaltungszentren und 70 Prozent der ruralen Gebiete – bereits wieder Realität.

Ethnische Milizen

Im Land formieren sich erste Milizen, oft mit ethnischem – also nichtpaschtunischem – Hintergrund. Denn niemand vertraut darauf, dass die afghanischen Sicherheitskräfte die Taliban werden aufhalten können. Die afghanische Armee, die plötzlich fast auf sich allein gestellt ist, scheint es selbst auch nicht zu glauben. Zu Wochenbeginn setzten sich hunderte Soldaten ins Nachbarland Tadschikistan ab, das nun die eigenen Sicherheitskräfte an die Grenze geschickt hat. Russland hat Duschanbe bereits seine Hilfe zugesagt.

Die Milizen sehen viele als Vorboten des gefürchteten Bürgerkriegs, Folge einer totalen Fraktionierung. Auch jetzt schon breiten sich die Taliban nicht nur mit militärischen Mitteln aus. Es kommt auch zu Deals mit lokalen Behörden, die ihre Fahnen nach dem Wind richten. Es geht um die Machtverteilung, und das erinnert fatal an die Zeit nach dem Abzug der Sowjets im Jahr 1989.

Zwanzig Jahre Krieg

Afghanistan zu übergeben, aufzugeben, ist keine Idee, die Joe Biden in seine Präsidentschaft mitgebracht hat: Im Grunde besteht in den USA und auch in anderen Afghanistan-Kriegsteilnehmerstaaten ein breiter Konsens, dass es nicht so weitergehen konnte. Zwanzig Jahre Krieg, tausende Tote und exorbitante Kosten für fragwürdige Resultate, es ist genug. Die Folgen für Afghanistan selbst werden in Kauf genommen – genauso wie die erwartbaren strategischen Verschiebungen in der weiteren Region.

Der US-Abzug ist eine Sicherheitsherausforderung für alle Anrainer im engeren und weiteren Sinn, und manche – man denke nur an den Iran, wenn der Wiener Deal mit den USA nicht zustande kommt, aber auch an Russland – werden die Situation für sich zu nützen verstehen. China wird seinen geostrategischen Einfluss ausweiten. Einen Islamistenstaat in seiner Peripherie wird es einzudämmen wünschen.

Die USA haben zuletzt noch ein paar schwache Sicherheitsventile eingebaut. Das Konzept der Einsätze von außen wird überarbeitet. Der US-Kommandeur in Afghanistan, Austin Miller, wird etwas länger bleiben, und etwas mehr Personal – über die 650 Mann, die die US-Botschaft in Kabul schützen, hinaus – soll in der Region zur Verfügung stehen. Hoffentlich werden sie nicht doch noch dafür gebraucht, Amerikaner aus Kabul herauszuholen. (Gudrun Harrer, 8.7.2021)