Politikwissenschafterin Birgit Sauer sieht im aktuellen Baerbock-Bashing bekannte Geschlechternarrative. Woher das kommt, beschreibt sie im Gastkommentar. Und sie sagt: Frauen in der Politik sollten nicht noch immer als die Ausnahme vom Regelfall angesehen werden.

Annalena Baerbock gerät immer mehr unter Druck, in der Debatte schwingt auch männlicher Chauvinismus mit.
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Frauen sind zu jung, zu unerfahren, zu hübsch oder zu hässlich – die bundesdeutsche politisch-öffentliche Sphäre ist nach wie vor ablehnend gegenüber Frauen in politischen Führungspositionen. Angela Merkel, "das Mädchen" Helmut Kohls, mutierte mit viel Sitzfleisch zur "Mutti". Erst der Respekt, der ihr von ausländischen Politikerinnen und Politikern entgegengebracht wurde, machte sie auch in der Bundesrepublik Deutschland zur kompetenten, zumindest zur machtbewussten und damit akzeptablen Politikerin. Frauen zu diskreditieren ist ein beliebtes Politikspiel, nicht nur in Deutschland.

Unter Rechtfertigungsdruck

Nun ist also Annalena Baerbock dran. Es war zu erwarten, dass die bundesdeutsche Öffentlichkeit eine weibliche und dazu noch junge Kanzlerkandidatin nicht aushält – oder: dazu (noch) nicht bereit ist. In der "Taz" versuchte nun Silke Mertins, den Rücktritt Baerbocks von der Spitzenkandidatur der Grünen herbeizuschreiben. Bereits in der medialen Berichterstattung wurde die Entscheidung für Baerbock als Spitzenkandidatin vor allem als Entscheidung gegen Robert Habeck, den bewährten, beliebten und als kompetent wahrgenommenen Politiker, begriffen.

Baerbock war als Grünen-Spitzenkandidatin keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Überraschung, und sie musste sich immer wieder rechtfertigen. Dass sie sich als junge Frau inszenierte, wurde gar nicht goutiert – genau das wurde von Beginn an zu ihrem Problem gemacht. Dass es höchste Zeit war, dass die Grünen eine Frau als Spitzenkandidatin nominierten, wurde medial nicht kommuniziert. Auch die feministische öffentlich-mediale Solidarisierung mit der Kandidatin blieb aus, selbst als sie angegriffen wurde, dass sie nur wegen ihres Frauseins zur Spitzenkandidatin gekürt worden sei.

Normalität ist männlich

Die anderen Volksparteien setzen bei der kommenden Bundestagswahl, die von vielen als Richtungswahl gesehen wird, auf Altbewährtes – auf politische Männlichkeit. Dieser politische Maskulinismus blieb medial unbeachtet, ist er doch gewissermaßen Normalität. Jahrzehntelang krähte kein feuilletonistischer Hahn danach, dass ein Politiker nur deshalb gewählt wurde, weil er ein Mann ist, obwohl genau dies der Fall war. Und nun schlägt Mertins vor, die Grünen mögen in dieses machistische Fahrwasser zurückkehren, weil auch das Elektorat Habeck bevorzuge – eine Frau sei gewissermaßen der bundesdeutschen Wählerschaft nicht (mehr) zuzumuten.

Dass Baerbock ein Sachbuch rasch zusammenstückelte und das Zitieren nicht ernst nahm, dass sie sich nicht richtig an ihre akademische Biografie erinnern will und Zusatzzahlungen erst zu spät erfolgten, sind wahrlich keine Großtaten. Wirklich glaubwürdig macht sie das nicht. Dass sie deshalb als Politikerin inkompetent ist, dafür sind das freilich keine genügenden Beweise. Das aktuelle Baerbock-Bashing geschieht aber mit bekannten Narrativen: Sie ist zu unerfahren, ja politisch "unreif", sie hat sich übernommen, sich selbst überschätzt.

Beliebte Angriffsziele

Die Rücktrittsforderung arbeitet mit den traditionellen Mustern, mit denen Politikerinnen beschädigt werden sollen. Beliebte Angriffsziele sind die (vermeintliche) Emotionalität von Frauen oder ihr ungenügend ausgeprägter (politischer) Verstand. Bei männlichen Politikern scheint Rationalität und Emotionalität entweder wohl zusammengefügt, oder aber ihr machistisches Gezänk ist keines Kommentars wert. Vielmehr, so scheint es, zeichnen Angriffslust und Aggressivität noch immer den Politiker aus.

"Mal sind Frauen in der Politik zu wenig körperlich präsent oder zu wenig emotional, mal zeigen sie zu viel Gefühle. In den meisten Fällen dienen diese Topoi dazu, Frauen als Politikerinnen zu diskreditieren."

Nach wie vor erhebt das politische Feuilleton Max Webers Ideal zur Maxime: "Politik wird mit dem Kopfe gemacht und nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele." Da Frauen im liberalen "Trennungsdispositiv", das seit dem 19. Jahrhundert regiert, der privaten Sphäre zugeordnet, sie in erster Linie über ihren Körper definiert wurden und ihnen daher ein emotionalisierter "Geschlechtscharakter" (Karin Hausen) zugeschrieben wurde, galten sie gleichsam natürlicherweise für den Politikerberuf ungeeignet, nicht reif genug für die Politik, auch nicht zum Wählen. Die Willkür dieser Zuschreibungen ist eklatant, doch auch heute noch immer sichtbar: Mal sind Frauen in der Politik zu wenig körperlich präsent oder zu wenig emotional, mal zeigen sie zu viel Gefühle. In den meisten Fällen dienen diese Topoi dazu, Frauen als Politikerinnen zu diskreditieren. Sie hätten sich und ihren Körper nicht unter Kontrolle – ihren Geist (oder Geistschreiber) sowieso nicht.

Billige Argumente

Und dann der schlimmste Vorwurf Mertins’: Baerbock sei zu ehrgeizig gewesen, "sie wollte größer erscheinen, als sie ist". Fast möchte ich ergänzen: Ehrgeiz ziemt sich nicht, denn zum weiblichen Geschlechtscharakter gehört die Bescheidenheit. Der Vorwurf, unbescheiden aufzutreten, wie Baerbock dies angeblich tat – und wie es von jedem ihrer männlichen Kollegen gefordert wird –, ist ein weiterer Puzzlestein in der Demontage von Politikerinnen. Es erscheint peinlich-lächerlich, wenn frau vor der Geschichte der Diskreditierung von Frauen in der Politik die Vorwürfe gegen Baerbock liest – nichts Neues aus der Mottenkiste der Politikerinnendiffamierung. Kritisieren kann man Baerbocks Programm und ihre Performance, nicht aber mit billigen, oft indirekten Argumenten ihr Geschlecht.

Andere Fragen

Angesichts der sinkenden Umfragewerte der bundesdeutschen Grünen stellen sich andere Fragen: Ist es, wie so oft, die Partei, sind es die Parteigranden, die nicht hinter ihrer Spitzenkandidatin stehen? Wie beeinflusst die grün-autoritäre Wende im deutschen Südwesten die Wahlneigungen? Welche Bedeutung hat das Grünen-Programm, und wie kann es so kommuniziert werden, dass es eine große Wählerinnen- und Wählerschaft nach der Pandemie überzeugt?

"Jahrzehntelang krähte kein feuilletonistischer Hahn danach, dass ein Politiker nur deshalb gewählt wurde, weil er ein Mann ist."

In der feministischen Wissenschaft ist sattsam bekannt, dass Frausein allein kein politisches Programm ist. Aber es ist auch klar, dass die Präsenz von Frauen in der Politik eine schlichte Frage der Gerechtigkeit ist. Eigentlich wäre es an der Zeit, eine Geschlechterquote für Spitzenkandidaturen einzuführen, damit Frauen als Normalität, und nicht noch immer als die Ausnahme vom Regelfall angesehen werden. Jeder zweite Bundeskanzler muss eine Frau sein, und wenn die Parteien das nicht hinbekommen, muss dieser Platz der Macht eben leer bleiben. (Birgit Sauer, 8.7.2021)