Verfassungs- und Europaministerin Karoline Edtstadler kritisiert das ungarische LGBTQI-Gesetz scharf: Die Art und Weise, wie das Gesetz von Ungarn im EU-Rat verteidigt wurde, "hat allerdings ein noch größeres Unbehagen ausgelöst, als ich es vorher schon hatte".

Foto: Standard/Urban

Redaktionsbesuche im STANDARD sind derzeit noch rar, und viele Menschen trifft man nicht – die meisten Redakteurinnen und Redakteure sind momentan noch im Homeoffice, das Großraumbüro ist fast menschenleer. Karoline Edtstadler kommt in Begleitung ihrer Pressesprecherin und ihres Hundes Struppi, eines Terrier-Mischlings, den sie aus Ungarn adoptiert hat. Sie setzt sich auf einen Sessel im Redaktions-"Aquarium", dem gläsernen Besprechungsraum im Zentrum des Newsrooms, bindet sich die Leine um ihr Fußgelenk und lächelt in Richtung des Fotografen. Sie sei bereits seit fünf Uhr Früh auf den Beinen, aber bereit.

STANDARD: Ungarn beschließt ein LGBTQI-feindliches Gesetz, der tschechische Präsident nennt Transgender-Personen "ekelhaft", der slowenische Premier greift Journalisten und EU-Kommissare an. Was ist da los in unserer Nachbarschaft?

Edtstadler: Bei all diesen Beispielen sage ich: Es ist abzulehnen, was hier an Worten fällt. Das ist auch nicht mit den Werten in der Europäischen Union vereinbar. Man sollte aber Äußerungen von Politikern nicht mit einem ganzen Staat oder dem Wertekonstrukt der dort lebenden Menschen gleichsetzen. Umso wichtiger ist es, miteinander zu reden und aufeinander zuzugehen, wie wir es in der Konferenz zur Zukunft der EU derzeit versuchen.

STANDARD: Aber inwiefern ist es sinnvoll, über die Zukunft Europas zu sprechen, wenn wir in der Gegenwart derartige Konflikte sehen?

Edtstadler: Gerade dann ist es wichtig, über die Zukunft zu reden! Auch mit dem Blick darauf, was Europa schon geleistet hat: Es hat einen Kontinent des "European Way of Life" kreiert, mit Wohlstand und Menschenrechten, die einklagbar sind. Wir sind es gewohnt, in Schönwetterzeiten eine strahlende Europäische Union zu haben. Aber gerade in Krisen ist es wichtig, auf den Zusammenhalt zu achten und mit denen zu sprechen, die den Weg der Rechtsstaatlichkeit zu verlassen scheinen.

STANDARD: Österreich bezeichnet sich gern als "Brückenbauer". Aber wie schafft man es, einerseits Gesprächskanäle nach Ungarn oder Polen offen zu halten, andererseits eine klare Ablehnung der dortigen Maßnahmen zu transportieren?

Edtstadler: Wann braucht man eine Brücke? Wenn man Gräben überwinden will. Jemanden am Verhandlungstisch zu behalten, ist wesentlich. Brückenbauer zu sein heißt nicht, mit allem einverstanden zu sein, was der macht, zu dem man eine Brücke schlagen will.

STANDARD: Hat Österreich deshalb so spät die Deklaration der Außen- und Europaminister gegen das ungarische LGBTQI-Gesetz unterschrieben? Mehr als ein Dutzend Länder waren früher dran.

Edtstadler: Ich habe schon vor dieser Stellungnahme, die von den Benelux-Staaten initiiert wurde, im österreichischen Parlament ganz klar Stellung bezogen. Ich habe trotzdem aus Respekt vor der ungarischen Europa- und Justizministerin gesagt, ich möchte mir ihre Erklärung im EU-Rat anhören und entscheide dann, ob ich die Deklaration unterschreibe. Die Art und Weise, wie dort das Gesetz verteidigt wurde, hat allerdings ein noch größeres Unbehagen ausgelöst, als ich es vorher schon hatte. Deshalb war dann die Entscheidung klar, zu unterschreiben.

STANDARD: Heißt das im Gegenzug, es war respektlos von den Benelux-Ländern, Deutschland, Frankreich und anderen, vor der Anhörung der ungarischen Seite mit der Deklaration vorzupreschen?

Edtstadler: Ich habe als Richterin gelernt, den Unmittelbarkeitsgrundsatz zu leben. Gerade weil wir uns in Brüssel nach langer Zeit wieder physisch treffen, war es aus meiner Sicht respektvoller, zuerst zu hören, was die ungarischen Kollegen zu sagen haben.

STANDARD: Mit Blick auf die Zukunft: Wo soll die EU hin, wie stark soll die innereuropäische Integration sein?

Edtstadler: Die große Chance wäre jetzt, die Ängste, Wünsche und Hoffnungen abzuholen, die Bürgerinnen und Bürger an die EU haben. Wir sehen gerade in der Pandemie, wie viele Vorteile uns abhandenkommen können: Denken Sie an offene Grenzen; an Warenlieferungen, die an der Grenze aufgehalten werden. Man hätte sich das vor der Pandemie gar nicht vorstellen können.

STANDARD: Ist das Einstimmigkeitsprinzip im EU-Rat ein Problem?

Edtstadler: Wir haben ja in zwei Bereichen ein Einstimmigkeitsprinzip: Im Bereich der Finanzen halte ich es für absolut wichtig, weil es Ausdruck der Souveränität der Staaten ist, dass diese über ihre Mittel verfügen können. In der Außenpolitik wird es aber im Rahmen der Zukunftskonferenz notwendig sein, das Einstimmigkeitsprinzip in seiner Reinkultur zu überdenken, weil wir sonst nie zu raschen Entscheidungen kommen. Es ist aber oft weniger eine prozedurale Frage als eine des politischen Willens. Da müssen wir uns ein ausbalanciertes System überlegen, damit es zu keinem "Drüberfahren" kommt.

STANDARD: Woran liegt es, dass die Zustimmung zur EU laut Umfragen in Österreich sinkt?

Edtstadler: Zunächst möchte ich, dass wir zwischen EU-kritisch und antieuropäisch differenzieren. Auch ich scheue mich nicht davor, klare Worte zu finden, wenn ich mit dem Gegenüber nicht einer Meinung bin – und Kritik dient ja auch dazu, Dinge zu verbessern. Die letzte Eurobarometer-Umfrage im April war unter dem Eindruck der Impfstoffbeschaffung. Hier hatte die EU gerade am Anfang zu wenig rasch reagiert. Ein Dilemma ist aber auch, dass es als selbstverständlich erachtet wird, wenn Dinge funktionieren, und große Aufregung herrscht, wenn etwas nicht klappt.

STANDARD: Was überrascht Sie, wenn Sie in Österreich unterwegs sind und über die EU sprechen?

Edtstadler: Das tiefe Wissen, das teilweise vorhanden ist. Viele wünschen sich, dass Hürden abgebaut werden, was den Zugang zum Binnenmarkt betrifft. Der Wunsch ist eine europäische Union, die möglichst wenig Bürokratie hat, rasch reagiert und Lösungen präsentiert. Es geht aber auch um die Frage, wie man Opfern von Hass im Netz hilft. Ich bin zwar stolz, dass wir das Kommunikationsplattformengesetz geschafft haben, aber es braucht hier auch eine europäische Lösung.

STANDARD: Innerhalb Österreichs wurde der ÖVP ein zweifelhaftes Verhältnis zum Rechtsstaat attestiert; auch der Kanzler und Sie selbst haben der Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) viele "Verfehlungen" vorgeworfen. Würden Sie das heute noch einmal so machen?

Edtstadler: Ich würde das Wort "Verfehlungen" wohl nicht mehr verwenden. Aber ich stehe zur Kritik an sich – und in einem Rechtsstaat ist keine Institution sakrosankt. Insofern glaube ich schon, dass es berechtigt ist, manches zu hinterfragen. Eine Hausdurchsuchung bei einem Finanzminister wegen eines Sachverhalts, der viele Jahre zurückliegt, halte ich schon für etwas, das man infrage stellen kann und das womöglich überschießend ist. Dasselbe gilt für ein Verfahren wegen Falschaussage, das aus dem U-Ausschuss heraus entsteht.

STANDARD: Meinen Sie damit, dass auch beachtet werden muss, inwiefern schon der Verdacht einen Bundeskanzler unter enormen Druck bringen kann?

Edtstadler: Klarerweise ist das keine angenehme Geschichte, und es ist für niemanden banal, wenn gegen ihn ermittelt wird. Ich bin davon überzeugt, dass es – sollte es zu einem Strafantrag kommen – nur zu einem Freispruch kommen kann. Es steht für mich außer Frage, dass der Kanzler nie im Ansatz den Vorsatz hatte, hier eine falsche Aussage zu treffen.

STANDARD: Also sind die Ermittlungen doch eine "Verfehlung"?

Edtstadler: Ich würde das nicht mehr so nennen, weil es mehrere Instanzen gibt. Wenn ein Urteil aufgehoben wird oder ein Strafantrag geändert wird, ist das keine "Verfehlung", sondern eine Korrektur durch die obere Instanz. Ich glaube, es braucht einen ruhigen Zugang – und ich glaube, dass die Justiz durch den parallel laufenden U-Ausschuss in eine politische Ecke gezogen wurde, in der sie sich selbst nicht sieht.

STANDARD: Es ist klar, dass man auch die Staatsanwaltschaft kritisieren kann, aber ist es nicht eine Drohgebärde, wenn man als Reaktion auf bestimmte Ermittlungen Reformen ins Spiel bringt?

Edtstadler: Ich weiß nicht, welche Reformvorschläge als Bedrohung ausgelegt werden würden. Wir arbeiten an einem unabhängigen Bundesstaatsanwalt, wollen Beschuldigtenrechte stärken, kürzere Verfahrensdauern ermöglichen und den Kostenersatz verbessern. All das geht ja in eine positive Richtung und erfolgt natürlich gemeinsam mit Justizministerin Alma Zadić.

STANDARD: Als Drohgebärde wurden ja vor allem die lancierten Ideen einer "Zerschlagung" der WKStA empfunden …

Edtstadler: Dazu kann ich nichts sagen. Wahrscheinlich ist es eher zweitrangig, wo die Behörde sitzt. Aber jetzt gibt es die WKStA seit 2013, und sie soll bitte ermitteln. Ich unterschreibe zu hundert Prozent, dass man mit aller Kraft gegen Korruption vorgehen soll. Ich sage nur, dass Ruhe einkehren soll und nicht jede Kritik als Majestätsbeleidigung aufgefasst werden soll.

STANDARD: Wenig Ruhe gibt es auch rund um Smartphone-Chats. Sind die Hürden für den staatsanwaltschaftlichen Zugriff auf Smartphones zu niedrig?

Edtstadler: Wir brauchen eine Entpolitisierung dieser Debatte. Wenn man sich überlegt, dass ein Handy rein aufgrund staatsanwaltschaftlicher Anordnung sichergestellt werden kann, aber sich das ganze Leben darauf befindet, dann entspricht das nicht mehr dem Zeitgeist beziehungsweise der Bedeutung, die Handys heute haben und dem Umfang der Daten, die darauf gespeichert sind. Gedacht war, dass man Gegenstände wie die Tatwaffe "sicherstellen" kann, nicht das Smartphone. Wenn hingegen jemand abgehört wird, braucht es eine richterliche Genehmigung. Ich glaube, es liegt auf der Hand, dass man da gleichziehen muss.

STANDARD: Aber auch dann bleibt noch die Frage nach den Leaks?

Edtstadler: Warum kommen denn diese Chats an die Öffentlichkeit? Viele von diesen an den U-Ausschuss gelieferten Chats waren so klassifiziert, dass sie nicht publik werden durften. Irgendjemand hat entschieden, dass er sich über diese Verfahrensordnung hinwegsetzt, auf die man sich im Parlament geeinigt hat. Das ist, als würde ich einem Arzt alles anvertrauen, weil er zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, und der erzählt dann meinem Nachbarn, welche Krankheiten ich habe, weil der es seinem persönlichen Ermessen nach wissen soll.

STANDARD: Allerdings hat der Verfassungsgerichtshof entschieden, dass eine solche Menge an Chats an den U-Ausschuss zu liefern ist.

Edtstadler: Aber auch der Verfassungsgerichtshof ist davon ausgegangen, dass die Verfahrensregeln des U-Ausschusses eingehalten werden – und das ist nicht der Fall gewesen. Insgesamt, glaube ich, ist es notwendig, dass der Untersuchungsausschuss endet und die Justiz die im Zusammenhang stehenden Verfahren rasch abschließt.

STANDARD: Erwarten Sie sich, dass im Herbst eine Reform der Strafprozessordnung mit Bezug auf Chats gestartet wird?

Edtstadler: Diese Diskussion werden wir auf jeden Fall führen. Im Zuge des Pakets, das wir verhandeln wollen und das Justizministerin Zadić jetzt durch Expertenrunden angestoßen hat, wäre es gut, das einer Lösung zuzuführen.

STANDARD: Sie haben angeregt, dass U-Ausschüsse nicht mehr parallel zu Ermittlungen stattfinden sollen. Aber man müsste ja zumindest vorher dafür sorgen, dass Verfahren nicht so lange dauern – Stichwort Eurofighter?

Edtstadler: Es kann ja keiner gutheißen, dass Verfahren über zehn, fünfzehn Jahre gehen. Das ist schon eine Problematik, die wir immer sehen – auch weil so viele Verfahrensstränge gleichzeitig laufen, obwohl man manche einstellen könnte. Außerdem sehen wir, dass die Vermischung zwischen Ermittlungen und U-Ausschuss und das Reinziehen der Justiz weder dem einen noch dem anderen hilft. (Katharina Mittelstaedt, Fabian Schmid, 8.7.2021)