Man kann schon mal durcheinanderkommen, wenn man dem Timing aus Budapest folgt: Am Donnerstag trat das europaweit heftig kritisierte Gesetz in Kraft, das für Jugendliche den Zugang zu Informationen über das Thema Homosexualität massiv einschränkt und Letztere in die Nähe zu Pädophilie rückt. Nur einen Tag vorher, am Mittwoch, wurde gegen eine ungarische Buchhandlung eine Geldstrafe verhängt, weil sie ein Märchenbuch verkauft hat, das von einem Buben mit zwei Müttern und von einem Mädchen mit zwei Vätern handelt.

Europäisches Parlament in Strassburg.
Foto: imago images/Reiner Zensen

Da stimmt etwas nicht? Genau. Das Urteil vom Mittwoch hat mit dem erst seit Donnerstag wirksamen Gesetz natürlich nichts zu tun. Für das Buch hätte angeblich eine – nicht erfüllte – Kennzeichnungspflicht bestanden, weil es den Werten der ungarischen Verfassung widerspreche, laut der eine Familie aus Vater, Mutter und Kind besteht.

Klar, die Sache mit dem Buch entspringt demselben Geist wie das neue Gesetz – nämlich dem der nationalpopulistischen Regierung in Budapest, die ihre eigene Politik stolz als "illiberal" bezeichnet. Gerade deshalb aber muss das liberale Europa stets trennscharf argumentieren, wenn es dagegenhalten will. Sonst trägt es zu jener Verwirrung bei, die es Ungarns Premier Viktor Orbán erlaubt, im Trüben zu fischen und Kritik als unsachgemäß abzuschmettern.

Besonders wichtig ist das auch in der aktuellen Debatte um Sanktionen gegen EU-Mitglieder, die gemeinsame Werte – und dazu gehört die Gleichbehandlung sexueller Minderheiten – missachten: Der öffentliche Diskurs und die Debatten in und zwischen den Institutionen der EU müssen sich auf einem klar abgesteckten Spielfeld mit transparenten Spielregeln bewegen. Nicht aus Freude an juristischer Haarspalterei, sondern um jenen das Handwerk zu legen, die mit Nebelgranaten den Blick auf das Wesentliche trüben.

Unterschiedliche Verfahren

Zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit gab es schon bisher die – politischen – Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags, wie sie gegen Ungarn und Polen laufen, und, genau wie in anderen Streitfragen auch, juristische Vertragsverletzungsverfahren. Beides gilt als langwierig. Nun jedoch geht es um etwas völlig Neues: um die erst kürzlich geschaffene Möglichkeit, Mitgliedsstaaten, die sich nicht an rechtsstaatliche Kriterien halten, Geld aus EU-Töpfen zu streichen. Das kann recht schnell gehen, für den Beschluss reicht am Ende eine qualifizierte Mehrheit im Rat. Genau deshalb hat Ungarn sich heftig gegen diesen Mechanismus gewehrt. Und genau deshalb ist es jetzt so wichtig, seine Anwendung transparent zu gestalten.

Ob Ungarns LGBTQI-Gesetz als Auslöser infrage kommt, ist längst nicht geklärt. Vereinbart wurde, dass der Mechanismus nur dann greift, wenn durch mangelnde juristische Kontrolle EU-Mittel in dunklen Kanälen versickern. Ob europäisches Steuergeld missbraucht wird, wenn es an eine Regierung geht, die die Rechte Homosexueller beschränkt, wird erst noch ausdiskutiert.

Aus dem Europäischen Parlament kommt der Appell an die Kommission, das sehr wohl so zu sehen. Ob sich diese Meinung am Ende durchsetzt, wird sich weisen. Für sie zu kämpfen ist völlig legitim. Man sollte jedoch nicht die Erwartung schüren, dass die EU Ungarn von heute auf morgen den Geldhahn zudreht. Wer Rechtsstaatlichkeit fordert, muss auf dem Boden des Rechts bleiben. (Gerald Schubert, 8.7.2021)