"Charlatane" sind oft Wortverdreher: Es ist das Ohr, das sturmreif gemacht wird.

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Ein Buch, das exakt zur rechten Zeit kommt: Die Fälscher der Wahrheit sind wieder unter uns. Mehr denn je nutzen sie Angst und Unsicherheit einer seuchenverschreckten Öffentlichkeit, um ihr Unwesen als Faktenverdreher und Brunnenvergifter mithilfe von Fake-News voranzutreiben. Rudelweise folgen die Netzgemeinschaften der digitalen Medien den Corona-Leugnern und Verschwörungsfantasten, sehr zum Schaden eines solidarischen Gesundheitssystems, doch ebenso zum Profit der Betreiber.

Es war eine andere Seuche, nämlich die der politisch-diktatorischen Wahrheitsfälschung, die in den 1930er-Jahren die jüdisch-österreichische Wissenschaftspublizistin Grete de Francesco dazu bewegte, in einer großen historischen Studie Die Macht des Charlatans darzustellen. Umzingelt von politischen Scharlatanen namens Mussolini und Hitler, konzentrierte sie sich bewusst auf das bis zur Renaissance zurückreichende Defilee der Gaukler, Kurpfuscher und zur Täuschung entschlossenen Volksverführer. Aus Rücksicht auf die Zensur, aber im Vertrauen auf die Erkenntniskraft ihres Lesepublikums, Geschichte als Warnschrift zu verstehen, versagte sie sich konsequent die Nennung von Gegenwartsbeispielen.

Massenverführung

Umso unmissverständlicher befand sie: "Die Scharlatane aller Zeiten waren Meister in der Menschenkenntnis und der Menschenbehandlung. Immer mieden sie die denkenden und wendeten sich an die gläubigen Menschen. Die Ausnützung der menschlichen Sehnsucht nach Verwandlung, die tiefstem menschlichem Leid entspringt, das skrupellose Jonglieren mit dem Vertrauen der Hoffenden ist eine der teuflischsten Plagen, von denen die Menschheit heimgesucht wird."

Bedrängt von den politischen Magiern der Wortverdrehung und ihrer Vorspiegelung falscher Tatsachen, suchte sie an Beispielen überlieferter Meister der Massenverführung deren Mittel und Methoden bloßzulegen. Durchgängig hob sie die schillernden Künste der Überredung hervor, die Insistenz auf Wortwiederholungen und eingängige Sprachbilder: "Es ist das Ohr, das sturmreif gemacht und überrannt wird." Wie Springteufel aus der Schachtel schießen vor allem in bedrohlichen Zeiten jäh die Scharlatane ans Licht einer Öffentlichkeit, die sich über Jahrhunderte vorwiegend auf den Marktplätzen versammelte. Weshalb die fahrenden Quacksalber und medizinischen Hochstapler auch "Marktschreier" geheißen wurden. Sie sprangen auf Bretterbühnen oder Bänke, im Italienischen nannte man sie deshalb auch "saltimbanco". Der ältere Begriff "Scharlatan" entstammt gleichfalls dem Italienischen: "ciarlatore" ist ein Prahlhans.

Nicht nur selbsternannte Wunderheiler, Starstecher oder Salbenkrämer traten, meist mit bombastischem rhetorischem und theatralischem Aufwand, vor ein gutgläubiges Publikum. Auch eilfertige Taschenspieler, raunende Alchemisten oder findige Verwandlungskünstler, die vorgaben, Blei zu Gold machen zu können, befriedigten mit ihren Auftritten die eigene Geltungssucht – und ihre Habgier gleich dazu.

Die Autorin porträtiert eine Vielzahl der zu zweifelhaftem Ruhm gelangten Hexenmeister der Täuschung, seien es Aufschneider und Blender vom Typus Münchhausen, seien es Betrüger wie die legendären Grafen Cagliostro oder medizinische "Generalisten" wie Doktor Eisenbarth oder der Schweizer Alchemist und Metallurg Leonhard Thurneysser.

Macht und Fälschung

"Die Macht des Charlatans ist auf Fälschung gegründet: Frevelnd nimmt er Wahrheit, Wissen und Wort ihren Echtheitsgehalt", konstatiert de Francesco. Und weiter: "Da alle Charlatane Meister in der Beeinflussung und Lenkung von Meinung waren, so wussten sie auch, dass der höchste Triumph und auch der einzige wirklich ausschlaggebende Erfolg in der Meinungs-, also in der Massenbeherrschung darin besteht, dass man die Leute so weit bringen muss, Widersprüche nicht mehr als Widersprüche zu empfinden und in der Tat zwei einander ausschließende Behauptungen gleichzeitig zu glauben. Das erst bedeutet die erfolgreiche Entthronung der Wahrheit."

In den 1930er-Jahren als verfolgte Jüdin ein Buch über Scharlatane zu schreiben, dazu gehörte viel Mut. Nach unbeschwerten Münchner Studienjahren in der Schwabinger Schickeria hatte ihr Lebensweg, stets fluchtbereit, die 1893 als Margarethe Weissenstein in Wien geborene Intellektuelle über München, Berlin, Paris, Zürich vor allem nach Italien geführt.

Durch die Heirat mit einem Südtiroler Ingenieur hatte sie die italienische Staatsangehörigkeit erworben. Als namhafte Publizistin erhielt sie ab 1933 von Mailand aus die ihr Überleben sichernde Möglichkeit, historische Beiträge für die firmeneigene Kulturzeitschrift des Basler Chemiekonzerns Ciba zu verfassen. Ein 1936 publizierter Aufsatz über die Scharlatanerie wurde die Keimzelle für ihr Buch, das 1937 im Schwabe-Verlag in Basel erschienen ist und zwei Jahre später in englischer Übersetzung in den Vereinigten Staaten große Aufmerksamkeit erlangt hat.

Als "eine Art Psychologie des historischen Typus des Charlatans" hatte Thomas Mann das Buch empfohlen. Zuvor waren schon sehr akzentuierte Rezensionen von Walter Benjamin und Joseph Roth über die deutsche Erstpublikation erschienen.

De Francescos Standardwerk ist dank des Sachverstands der Autorin auch nach 84 Jahren eine unersetzliche Wiederentdeckung. Wer es liest, wird hellhörig für die Schalmeientöne heutiger Kopfverdreher. So vermögen etwa die fundamentalistischen Scharlatane des Islamismus mithilfe der modernen Kommunikationstechniken den Töchtern aus westlichem liberalem Elternhaus den Auftrag einzupflanzen, sich als verschleierte Kriegerbräute in Syrien den IS-Kämpfern hinzugeben.

Herrschaft der Lüge

Als hätte sie bereits Einblick in die Manipulatorenwelt der "alternativen Fakten" genommen, formulierte die Autorin: "Wird die Wahrheit zur Fabel, dann gibt es kein Zurückschrecken mehr vor der Fälschung. Alle Maßstäbe und mit ihnen alle Wertungen, sittliche wie sachlich-qualitative, werden ‚verrückt‘ und können so mühelos bis zur Unkenntlichkeit relativiert werden. Nicht das Bemühen um die Erkenntnis von der Wandelbarkeit der Wahrheit ist hier am Werke, sondern es agiert die souveräne Herrschaft der Lüge, die Fälschung und Fälscher sanktioniert."

Grete de Francesco, "Die Macht des Charlatans".
Mit 69 Abbildungen und einem biografischen Essay von Volker Breidecker.
€ 25,70 / 454 S. Verlag Die Andere Bibliothek (Band 434), Berlin 2021

Ein unerschütterlicher Glaube an den Einfluss des Worts trieb Grete de Francesco bei der Abfassung ihres Buchs an. Dieser Glaube hat überlebt, die Autorin nicht: Sie wurde noch im Frühjahr 1945, kurz vor dem Ende der NS-Barbarei, im Konzentrationslager Ravensbrück ermordet. (Oliver vom Hove, 11.7.2021)