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Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Ihr Talent lebt in der Tickeria fort.

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Euro-Ticker, das Finale: Italien vs. England, So., 21 Uhr

60.000 Zuseher im Wembley. Millionen Fans vor den Fernsehern. Als Jorginho im EM-Semifinale den letzten Elfmeter gegen Spanien lässig verwertete, war sich die Fußballwelt einig: Der Italiener hat dieser unfassbaren Drucksituation standgehalten. Als STANDARD-Sportredakteur kann ich darüber nur müde lächeln. Das soll Druck gewesen sein? Jorginho soll sich einmal Sekunden nach Pausenpfiff eine Pausenreim-Vorlage aus den Fingern saugen, die die anspruchsvollen User in unserem Ticker zufriedenstellt. Das nenne ich Druck!

Seit 1998 werden Sportereignisse im STANDARD-Ticker begleitet. Da die Pause in Fußballspielen wenige Highlights bietet, die Tickeria aber dauerunterhalten werden will, wurde der Pausenreim ins Leben gerufen. Der Journalist liefert eine Vorlage, also einen möglichst geschickt ausgewählten Halbsatz. Die Aufgabe der Userschaft ist es, darauf mit einem möglichst fantasievollen Reim zu antworten. Ein Beispiel:

Zeitdruck und hohe Erwartungen

Was in der Theorie so einfach klingt, erweist sich in der Praxis aber als tückenhaft. Da wäre einmal der Zeitfaktor. Die Tickeria erwartet pünktlich mit Pausenpfiff die Reimvorlage. Daran zu denken, dass die User zunächst ein Fazit der ersten Spielhälfte interessieren könnte, ist völlig naiv. Nur der Pausenreim zählt. Ist die Vorlage nach zwei Sekunden nicht da, wird irritiert nachgefragt. Nach fünf Sekunden werden schon langsam die Heugabeln gewetzt. Vergisst oder verzichtet der Redakteur auf die Tradition, fällt er sowieso in Ungnade. Dann Gnade dir Gott!

Dies musste ein Kollege während der EM erfahren. Gerüchte, wonach er die Pausenreime absichtlich boykottierte, können an dieser Stelle weder bestätigt noch dementiert werden. Bis Redaktionsschluss war der Beschuldigte Philip B. nicht für eine Stellungnahme erreichbar. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Ja, der Druck lastet schwer auf der Sportredaktion. Und unter Zeitdruck kreativ zu sein ist umso schwieriger. Zumal die Tickeria selbst hochtalentiert in der Lyrik ist, stets auf hohem Niveau (stimmt’s pibyte?). Ein Bluttest würde ergeben, dass mindestens die Hälfte der Userinnen und User Nachfahren von Johann Wolfgang von Goethe sind. Dementsprechend groß die Erwartungshaltung an diesen einen Halbsatz. Wenn dieser nicht gut genug ist, dementsprechend groß die Enttäuschung. Dann wird dem Redakteur, frei nach Günther Neukirchner, vorgeworfen: "Das ist der nächste deppate Pausenreim."

Rhythmus

Die Angst vor Zurückweisung ist allgegenwärtig. Um das Selbstvertrauen zu stärken, begebe ich mich vor dem EM-Finale ins Trainingslager. Peter Clar ist Lyriker, unterrichtet Gegenwartsliteratur an der Universität Wien und ist Mitbegründer der Poesiegalerie. Die Organisation soll Gegenwartslyrik fördern – und diesmal einen verzweifelten Sportjournalisten.

Lyrikexperte Peter Clar.
Foto: Andrew Rhinky

Für Clar haben "bei einem guten Vers beide Zeilen den gleichen Rhythmus". Also zahle es sich aus, bereits in der ersten Zeile darauf zu achten. Wie macht man das? "Jeder Mensch hat in der Regel ein gewisses musikalisches Gespür", sagt der Experte. "Wenn man sich eine Zeile laut vorliest, merkt man schnell, ob das flüssig geht oder irgendwo stockt."

Ein gutes Beispiel dafür ist die Reimvorlage beim Gruppenspiel Spanien – Slowakei (5:0). Der slowakische Tormann Martin Dúbravka faustete sich den Ball ins eigene Gehäuse. Das kuriose Eigentor führte zur Pausenreimvorlage: "Was hat der Goalie nur gemacht". Clar sieht darin einen gleichmäßigen Rhythmus: "Der Vers hat acht Silben, und jede zweite wird dabei betont."

Versmaß

Von der Tickeria oft bemängelt, kommt hier auch das Versmaß ins Spiel. Dazu etwas Theorie aus der Literaturwissenschaft: Die Wortsilbe gilt als kleinste metrische Einheit. Ein Versfuß wiederum besteht aus mehreren Silben. Wenn eine unbetonte und eine betonte Silbe aufeinanderfolgen, spricht man von einem Jambus. Das Versmaß beschreibt, in welcher Reihenfolge die Silben eines ganzen Verses betont (Hebung) oder unbetont (Senkung) sind. Das Versmaß für obige Reimvorlage wäre demnach ein vierhebiger Jambus.

Wer Latein in der Schule gehabt hat, hat mit Versmaßen vermutlich bereits Bekanntschaft gemacht. Kurzfassung: Es gibt einige. Clar bestätigt zwar, dass das Versmaß ein Kriterium für einen guten Rhythmus sein kann. Aber nachdem Redakteure keine Homḗr-Nachfahren sind, sind Versmaße bei Pausenreimen nebensächlich, der Rhythmus sei wichtiger, und der hänge auch von anderen Kriterien ab.

Länge und Satzbau

"Anfangs zach, dann der Schuss" sowie "England hofft auf Foden" sind für den Lyrikexperten etwas zu kurz geraten. Da sei es schwer, etwas Spannenderes daraus zu machen. "In der alltäglichen Kommunikation gibt es ja auch nur selten Sätze mit fünf oder sechs Silben." Zwar müssten erste und zweite Zeile nicht exakt dieselbe Silbenanzahl für einen gelungenen Vers haben, aber zumindest annähernd. Eine zu kurze Vorlage zwingt User dazu, ihre Antworten mühsam zusammenzustoppeln.

Clar empfiehlt, auf den Satzbau zu pfeifen. Die in der Volksschule gelehrte Reihenfolge Subjekt-Prädikat-Objekt macht sich im Deutschaufsatz gut, beim Pausenreim dürfe man dagegen damit herumspielen, um den Rhythmus einzuhalten. Ein Beispiel: Auf die Vorlage "Was hat der Goalie nur gemacht" antwortete User "Little Lebowski": "den Ball ich berühre nur sacht". Für Clar eine kreative Antwort, rhythmisch hätte aber "den Ball berühre ich nur sacht" besser reingepasst.

Generell sind längere Worte gefährlich. Bei der Vorlage "Schottland verzweifelt an Schick" könnten User am Wort "verzweifelt" verzweifeln, weil das langsilbige Wort die Antworten einschränke. "Wie knackt man den Waliser Riegel" flutsche dagegen gut.

Reimwörter

Das letzte Wort der ersten Zeile ist entscheidend. Denn die Tickeria bevorzugt den reinen Reim. Darunter versteht man die völlige klangliche Übereinstimmung zweier Wörter ab dem Vokallaut der letzten betonten Silbe. Klassiker: Herzen und Schmerzen. Clar lobt hier die Auswahl der Redakteure. Manche Begriffe würden sich zwar wiederholen, aber "was bringt ein Wort, auf das es nur zwei Worte zu reimen gibt? Man will die User nicht frustrieren."

Fazit

Insgesamt bewertet Clar die Userschaft als kreativ. "Die Originalität ihrer Reimworte ist sehr hoch. Ich muss oft lachen." Viel hängt von der Stimmung ab. Wenn Österreich im EM-Finale 5:0 führen würde, könnte die Pausenreimvorlage "afkm nrokgre efijrw fewekwflkew" lauten und würde vor lauter Euphorie – oder weil die Tickeria glaubt, der Journalist ist auf der Tastatur eingeschlafen – Grünstriche ernten. Im Alltag sind diese Grünstriche aber hart zu erkämpfen. Die Vorlagen werden stets kritisch beäugt. Zu Recht?

Clar nimmt die Redakteure in Schutz: "Die Aufgabe ist nicht so einfach", sagt er. "Man will ja nicht immer auf Tore reimen, muss aber einen Spielbezug finden." Alles in allem findet der Lyriker die Pausenreim-Vorlagen "meistens gelungen". Natürlich helfe ein guter Rhythmus. Aber einerseits gelte "Übung macht den Meister", und andererseits "liegt es meist nicht an der Vorlage, ob es ein guter Reim wird, sondern das Problem liegt eher bei der zweiten Zeile". Ein Satz, den ich mir eingerahmt aufs Nachtkastl stellen werde. Die Moral von der Geschicht'? Pausenreime fürchte nicht. (Andreas Gstaltmeyr, 11.7.2021)