Maurice Beurskens ist Österreich-CEO bei Gurkerl. Das Logistikzentrum steht am Wiener Stadtrand.

Foto: Heribert Corn

Während Maurice Beurskens, CEO des Lebensmittellieferanten Gurkerl, durch die Lagerhalle seines 6000 Quadratmeter großen Betriebsgeländes am Wienerberg geht, hält er immer wieder inne, nimmt eines der insgesamt über 9000 unterschiedlichen Produkte in die Hand und beginnt zu schwärmen. Von seinem "Lieblingskäse", bei dem man die "100 Prozent Leidenschaft spürt", und von den Bionudeln, bei denen man nicht weniger als "die Philosophie schmeckt". Früher war er Gastronom. Man nimmt ihm ab, dass er das, was er tut, gern tut. Es verkauft sich aber auch gut.

Gurkerl ist in Österreich erst seit letztem Dezember aktiv. Der Online-Liefer-Supermarkt ist ein Tochterunternehmen des tschechischen Start-ups Rohlik (deutsch: "Kipferl"), das 2014 gegründet wurde. Im letzten Jahr wurden in den Märkten Ungarn, Tschechien und Österreich insgesamt 300 Millionen Euro Umsatz erzielt, pro Monat 650.000 Lieferungen an 750.000 Kunden zugestellt. Anfang Juli verkündeten die Tschechen eine Finanzierungsrunde in Höhe von 100 Millionen Euro. Damit stieg Rohlik in die Liga der "Unicorns" auf – also nichtbörsennotierter Unternehmen, die auf eine Bewertung von über einer Milliarde Dollar kommen.

Ein Newcomer zwängt sich rein

In Österreich hat Rohlik bisher rund sieben Millionen Euro investiert, davon allein vier Millionen Euro in die Wiener Lagerhalle. Gurkerl beschäftigt derzeit 450 Mitarbeiter mit 28 unterschiedlichen Nationalitäten – aufgrund der hohen Nachfrage mit stark steigender Tendenz. Im Dezember startete man mit 200 Bestellungen pro Tag, im Mai waren es 1500 tägliche Bestellungen. Zu Jahresende sollen es 3000 tägliche Bestellungen sein, die jeweils innerhalb von drei Stunden zugestellt werden.

Erwartet wird, dass Gurkerl dieses Jahr 50 Millionen Euro Umsatz macht. Zur Einordnung: Das entspricht dem, was Konkurrent Billa im Corona-Jahr 2020 mit Onlinezustellungen umsetzte, nach 30 Millionen Euro im Vorjahr. Dem wachsenden Onlinebusiness steht gegenüber, dass der Großteil der Lebensmittel nach wie vor offline eingekauft wird: Laut Informationen der Wirtschaftskammer wurden 2020 insgesamt über 43 Milliarden Euro im heimischen Lebensmittelhandel umgesetzt, und das Feld der Online-Supermärkte teilt sich Gurkerl mit zahlreichen Mitbewerbern. Was machen die Newcomer also anders als die Konkurrenz?

Im Herzen eine Tech-Company

"Im Herzen sind wir eine Tech-Company", sagt Beurskens und zeigt auf einen Monitor in der Lagerhalle, auf dem der Status jeder Bestellung angeführt ist. Die dazugehörigen Daten werden laufend während der Prozesse gesammelt und zur weiteren Optimierung genutzt. Das gilt auch für die Fahrer, die in direktem Kontakt mit dem Kunden stehen – auch das Feedback über ihre Performance wird ausgewertet. Die Erkenntnisse aus den Daten werden genutzt, um das Verhalten der Fahrer bei Schulungen in der hauseigenen "Academy" zu optimieren.

Klingt nach einer dystopischen Vision, in der Menschen auf Zahlen und Daten reduziert werden? Mag sein. Beurskens verweist darauf, dass die angestellten Gurkerl-Fahrer bis zu 2500 Euro netto verdienen. Da das Grundgehalt laut Beurskens zwischen 2700 und 2900 Euro brutto (und somit unter 2000 Euro nett) pro Monat liegt, sei ein guter Teil der 2500 Euro netto auf Trinkgelder und damit auf die ständige Feedback-Schleife zurückzuführen.

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Neben der Digitalisierung ist auch Standardisierung ein Teil der Erfolgsstrategie. Alle Prozesse wurden von den tschechischen Rohlik-Gründern in einem "Operations Playbook" definiert. In Österreich würden trotzdem teils andere Regeln gelten als in Tschechien und Ungarn, Rohliks anderem Auslandsmarkt, sagt Beurskens. So sei hierzulande etwa Plakatwerbung noch immer relevant, während man in den anderen Ländern wesentlich stärker auf Online-Ads setze. Als das Wachstum die Kapazitäten teilweise übertraf, musste Beurskens Kampagnen reduzieren und sich parallel auf den Ausbau der operativen Kapazitäten, inklusive Onboarding neuer Mitarbeiter, konzentrieren.

Beim Rundgang durch die Halle fällt auf, dass die Prozesse mit technologischer Hilfe so weit wie möglich standardisiert wurden, um wenig Freiraum für Fehler und Ineffizienz zu lassen. So werden einzelne Teile der Halle unterschiedlich stark gekühlt – abhängig davon, ob es sich um Trockenware wie Nudeln, um Gemüse oder um leicht verderbliche Ware wie Fisch und Fleisch handelt.

Foto: Heribert Corn

Eingehende Warenbestellungen werden mit Strichcodes versehen und zu Boxen zusammengestellt, die ebenfalls einen Strichcode enthalten und so den Kunden entsprechend zugeordnet werden. Bis das Paket für den Kunden zusammengestellt ist, soll maximal eine halbe Stunde vergehen – so gut wie jede Lieferung enthält Frischware, die entsprechende Anforderungen an Kühlung und Qualitätskontrollen stellt.

Die einst in der Logistik beliebte RFID-Technologie, bei der Produkte drahtlos digitale Informationen austauschen, wird im Gurkerl-Lager übrigens nicht eingesetzt. Sie sei einfach zu fehleranfällig, sagt Beurskens.

Foto: Heribert Corn

Andere Aspekte lassen sich nicht Standardisieren. So bietet Gurkerl zwar das klassische Supermarktsortiment, das man ohne Zwischenhändler direkt beim Produzenten bezieht. Beim Gros der über 400 Lieferanten handelt es sich aber um kleine, regionale Betriebe wie den Obst- und Gemüse-Hofladen Blün, Dressings vom Hipster-Lokal Mochi oder Topfenknödel vom Wiener Café Landtmann.

Mit diesen führt unter anderem Johannes Müller, Senior Category Manager Fleisch & Fisch bei Gurkerl, etliche Einzelgespräche. Er kam vor rund einem Jahr zum Unternehmen – also ein paar Monate, bevor der Service offiziell in Wien und Umgebung startete. "Die ersten drei Monate habe ich fast nur im Auto verbracht und mit den Bauern geredet", sagt Müller. Ich musste ihnen erklären, was Gurkerl überhaupt ist. Das kannte damals ja niemand." Für die internationale Beschaffung beobachtet das Team soziale Medien, liest Fachmagazine und scannt Videos von Starköchen, um neue Trendprodukte zu entdecken.

Expansion in Österreich

Mit dem Erreichen des Bestell- und Umsatzziels bis Jahresende wird zwar jede einzelne Bestellung per se Cashflow-positiv sein, sagt Beurskens, im Gegensatz zu Tschechien und Ungarn kommt das österreichische Gurkerl dieses Jahr aber noch nicht in die Gewinnzone. Das liegt unter anderem an den Investitionen: Im August 2022 soll eine weitere Halle gebaut werden, im Herbst die Lieferflotte ausgebaut werden. Derzeit fährt Gurkerl mit 70 Erdgasautos, ab Oktober sind es 120, künftig sollen Elektroautos hinzukommen. Zudem soll die Flotte mit E-Fahrrädern und Elektro-Tretrollern ausgebaut werden.

Und dann wäre natürlich noch das Thema der geografischen Expansion. Während Rohlik nach dem jüngsten Investment ab August auch München und Umgebung bedient, schließt Beurskens nicht aus, künftig auch weitere Regionen innerhalb Österreichs zu beliefern. Wie viele das werden, sei noch offen. Schließlich wolle man auch von neuen Standorten aus möglichst binnen einer halben Stunde liefern. (Stefan Mey, 10.7.2021)

Update, 14.7.: Aufgrund diverser Anfragen aus der Community wurde die Information hinzugefügt, dass das Brutto-Grundgehalt der Gurkerl-Fahrer zwischen 2700 und 2900 Euro brutto liegt.