Eine tröstliche Umarmung vom Zellengenossen: Georg Friedrich und Franz Rogowski in Sebastian Meises "Große Freiheit".

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Plötzlich steht die Welt einfach still. Der Freund friert vor der Kaffeemaschine ein, draußen auf den Straßen von Oslo sind alle Passanten erstarrt. Julie (Renate Reinsve), die Endzwanzigerin aus Joachim Triers The Worst Person in the World, läuft ans andere Ende der Stadt, in eine Cafeteria, wo jener Kerl an der Theke arbeitet, mit dem sie einmal eine lange Nacht lang geflirtet hat. Eine Gelegenheit, um kurz die Fahrbahn zu wechseln und herauszufinden, ob sich die Abwechslung lohnt.

Neben allen Risiken, die eine Großveranstaltung in Corona-Zeiten mit sich bringt: Für solche magischen Momente geht man ins Kino. Transzendenz braucht schließlich Größe, das "Bigger than Life". Dabei ist der norwegische Regisseur, der mit diesem Wettbewerbsbeitrag seine Trilogie über junge verwirrte Städter (nach Reprise und Oslo, 31. August) komplettiert, sehr um ein zeitgenössisches Lebensgefühl bemüht.

Julie ist eine wie viele. Talentiert, aber unbeständig. Wer viele Möglichkeiten hat, fängt gern immer wieder von vorn an. Während ihr Freund Aksel (Anders Danielsen Lie), ein 44-jähriger Comiczeichner, schon in einer ruhigeren Lebensphase angekommen ist, sucht sie überall den Kitzel des Neuen. Sie wechselt ihre Jobs, tauscht ihre Partner aus.

Trier trennt seine Bestandsaufnahme von Julies Lebenswirren in zwölf Kapitel auf: Momentaufnahmen, die das Leben in der Kompaktform verstehen wollen. Das verleiht dem Film eine erfrischend literarische Anmutung. Scheinbar mühelos verbindet Trier Komik mit Tiefgang; die Endlichkeit schleicht sich durch die Erkrankung Aksels gleichsam durch den Seiteneingang in den Film und verleiht dann auch dem Ephemeren ein anderes Gewicht.

Famose Rückschau

Wie Trier beschäftigt sich auch die Britin Joanna Hogg mit der Frage, wie man einem Selbstfindungsprozess Ausdruck verleiht, ohne sich auf gängigen Dramaturgien auszuruhen. Der zweite Teil ihres Films The Souvenir lief in der Quinzaine des Réalisateurs, hätte aber auch im Wettbewerb geglänzt. Indem sie auf ihre Anfänge als Filmemacherin im Sunderland der 1980er-Jahre zurückblickt, formt sie ein großartiges "period piece" über Selbstzweifel und wachsende Entschlossenheit, in dem eine ganze Ära widerhallt.

Am Ende des ersten Teils ist der Freund ihres Alter Egos Julie (Honor Swinton Byrne) an einer Überdosis gestorben, nun versucht sie, mit diesem Verlust zurande zu kommen. Der Film zeigt diesen Prozess als Verquickung von Leben und Arbeit, denn Julie ist dazu entschlossen, die Beziehung in ihrem Abschlussfilm an der Filmschule zu dramatisieren. Hogg besticht mit einer feingesponnenen Milieustudie, die von Popsongs der Zeit flankiert wird – anders als im ersten Teil liegt hier der Schwerpunkt auf der schwermütigen, aber bestimmten Heldin.

Applaus für eine gewaltige Umarmung

Auch der erste heimische Beitrag in Cannes, Sebastian Meises Große Freiheit, feierte bereits Premiere. Meise exemplifiziert die Diskriminierung von Homosexuellen anhand der Geschichte von Hans Hoffmann (Franz Rogowski): Schon im Nationalsozialismus verfolgt, bringt ihn der berüchtigte § 175 auch in der Nachkriegszeit in Deutschland wiederholt hinter Gitter. Das ist auch der in nüchtern-klaustrophobischen Bildern eingefangene Schauplatz des Films, wo sich die Annäherung zweier gegensätzlicher Männer vollzieht.

Georg Friedrich spielt Hoffmanns schroffen, offen homophoben Zellengenossen, der für das Leid und die dem anderen zugefügten Schikanen langsam Empathie entwickelt – die mutigste Setzung des Films ist, dass daraus sogar eine Liebesgeschichte wird. Meises Konzentration liegt auf den nuancierten Darstellern. Der verhaltene Tonfall verleiht dem Film einen etwas getragenen Rhythmus, dafür löst sich die Spannung an einer Stelle in einer gewaltigen Umarmung. Der Film erntete viel Applaus. (Dominik Kamalzadeh, 10.7.2021)