Die Matthäus-Passion als Geniestreich.

Foto: Jelena_Jankovia

Das Stück wird in keiner Sekunde langweilig.

Foto: Jelena_Jankovia

Ein schönes Lebensende sieht anders aus: Johann Sebastian Bach wurde 1750 an den Augen operiert und starb nach vier qualvollen Monaten im Juli desselben Jahres. Im ersten Teil seines neuen Stücks "Sad Sam Matthäus" erzählt der kroatische Choreograf Matija Ferlin von dem tragischen Sterben des großen Barockkomponisten. Für Teil zwei hat er sich eine noch schlimmere Geschichte aufgehoben. "Sad Sam Matthäus" ist noch bis Sonntag bei den Festwochen im Jugendstiltheater zu sehen.

Zwei Eigenschaften bilden den Grundriss dieser Performance: Erstens wird darin Bachs gesamte Matthäus-Passion (vom Band) gespielt, und zweitens bestreitet Ferlin den dreieinhalbstündigen Abend – inklusive Pause – ganz allein. Der Clou dabei ist, dass der Choreograf drei unterschiedliche, miteinander verknüpfte Erzählungen parallel ablaufen lässt.

Die Stimme aus dem Lautsprecher

Anfangs ist das die oratorische Matthäus-Passion als Geschichte von Leiden und Sterben Jesu Christi, dann der überaus farbige Bericht vom Erblinden und Tod des Komponisten durch eine Stimme aus dem Off und drittens die Bühnendarstellung eines einsamen alten Künstlers, der an seiner Skulptur scheitert.

Als brillantes Detail zeigt sich, dass die Erzähler-Stimme (Ferlins eigene) aus einem ferngesteuert auf der Bühne umherirrenden schwarzen Lautsprecher kommt. So kommt eine choreografierte Black Box als heimliche Nebendarstellerin ins Spiel.

Das Leiden

In Teil zwei wird es komplexer. Aus dem alten Künstler ist ein junger Performer geschlüpft, der vor dem Hintergrund von Zeugnissen seiner eigenen Biografie und zu den Gesängen bei Bachs Passion ins Detail geht. Erst jetzt stellt sich heraus, wohin Matija Ferlin zielt: auf das Leiden – das ist die Bedeutung des lateinischen Begriffs passio – in jedem Leben.

Damit trifft er eine der traurigsten Schwächen unserer Gesellschaften: ihren Hang, Leiden immer wieder nicht nur zu verursachen, sondern auch zu genießen, und außerdem das Leiden – vor allem anderer, aber auch eigenes – zu verdrängen, zu bagatellisieren oder zu tabuisieren.

Eher ungewöhnlich für heute, verzichtet Ferlin aufs Moralisieren und lässt dem Publikum so genügend Spielraum für eigene Assoziationen. Außerdem stellt er seine Biografie ganz offensichtlich nicht aus narzisstischen Gründen in den Mittelpunkt, sondern um Schlüsse vom Besonderen auf das Allgemeine zuzulassen.

Anregung zur Empathie

Erst dadurch wird es möglich, eine schon in der Passion Christi angelegte Botschaft mit heutigen Augen zu lesen: Das Leiden, der physische und psychische Schmerz, ist ein Bestandteil des endlichen Lebens, und eine der größten Aufgaben darin ist es, jenen Quälereien entgegenzutreten, die Menschen einander gegenseitig zufügen. Die Passion der Figur im Stück ist also als Anregung zur Empathie zu verstehen.

Die Komplexität des zweiten Teils von "Sad Sam Matthäus" verbindet sich mit der Mehrfachbedeutung des Titels, je nachdem, ob man ihn auf Englisch oder auf Kroatisch liest. Im Kroatischen hat "sad sam" die Bedeutung "jetzt bin ich". Die Assoziation mit "sad", dem englischen Wort für "traurig" schwingt unvermeidlich mit.

Das zeigt sich besonders gegen Ende des Stücks, wenn Ferlin die Geschichte einer fatalen Fehlentscheidung erzählt, die während eines Krieges – vermutlich des jugoslawischen am Ende des vergangenen Jahrhunderts – eine Familie in den Tod führt.

Fazit: Ein künstlerisch extrem gelungenes, so poetisches wie politisches Stück, das trotz seiner respekteinflößenden Dauer keine Sekunde lang fadisiert. (Helmut Ploebst, 10.7.2021)