Im Sonsbeek Park: Die schwimmende Installation des Berliner Kollektivs raumlabor.
Foto: Juuke Schoorl

Noch bevor das Super-Kunst-Jahr 2022 mit der Documenta 15 und der Biennale in Venedig anbricht, hat ein anderes Event als erstes größeres Kunstformat in Europa seit der Pandemie eröffnet. Und den Bann gebrochen: Nach zweifacher Verschiebung findet die internationale Ausstellung für zeitgenössische Kunst Sonsbeek 20–24 im niederländischen Arnhem statt. Künstlerischer Leiter ist der Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der 2017 die Documenta 14 mitkonzipierte und kürzlich zum neuen Intendanten des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin berufen wurde. Ein in Deutschland umjubelter Schachzug, gilt der Kameruner nicht zuletzt als erfolgreicher Vermittler westlicher und nichtwestlicher Kulturen. Ein Merkmal, das sich auch bei der Sonsbeek manifestiert.

Bereits 1949 – sechs Jahre vor der Documenta – wurde die öffentliche Kunstausstellung gegründet und sollte der Bevölkerung in der im Zweiten Weltkrieg schwerbeschädigten Stadt bei ihrem Wiederaufbau helfen. Ursprünglich als Biennale ins Leben gerufen, wurde die Ausstellung zunehmend unregelmäßig abgehalten. Die letzte Ausgabe 2016 gestaltete das indonesische Kollektiv ruangrupa, das wiederum die kommende Documenta ausrichtet.

Ndikung und sein vierköpfiges Team machen Sonsbeek nun zur Quadriennale. Ergo soll die Schau konsequent alle vier Jahre stattfinden, die Zeit bis zur nächsten Ausgabe soll aber auch genützt werden. So läuft die Ausstellung zwar bis Ende August, neue Projekte sowie ein Begleitprogramm wird es in der Stadt aber bis 2024 immer wieder geben.

Künstlerischer Leiter von Sonsbeek 20–24 ist der Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung,
Foto: David Uzochukwu

Neben der zeitlichen Ausdehnung erfährt die Sonsbeek 20–24 eine räumliche. Präsentierte das klassische Format die Kunstwerke im riesigen namensgebenden Park Sonsbeek, breiten sich die aktuell gezeigten Werke über die gesamte Stadt und deren Umgebung aus. 13 Locations werden bespielt – Kunsteinrichtungen sind darunter, aber ungewöhnliche Plätze vom Büchergeschäft über einen Basketballplatz bis zum Munitionskeller dominieren. Wobei sich kein Werk per Zufall an einem der Orte befindet. Der Dialog ist immer intendiert.

Arbeit als Epizentrum

Einer der imposantesten Plätze ist die im 15. Jahrhundert erbaute Eusebiuskirche, die ebenfalls schwer zerstört wurde und jetzt als Kulturzentrum dient. Großzügige Rauminstallationen wie "Parliament of Ghosts" von Ibrahim Mahama sind im Kirchenschiff zu sehen: Vor den Orgelpfeifen erhebt sich eine Tribüne mit ausrangierten Sitzplätzen sowie Bauteilen ghanaischer Eisenbahnen – und erinnert an die zum Teil von den Niederlanden kolonialisierte Goldküste und die Zeit der Unabhängigkeit.

An den postkolonialen Diskurs knüpfen Antonio Jose Guzman und Iva Jankovic an, die sich mit blau gefärbten Tüchern und einer Soundarbeit an die Produktion von Indigoblau auf surinamische und javanische Plantagen beziehen. Beide Arbeiten stehen für das kuratorische Konzept, das sich unter dem Titel force times distance – on labour and its sonic ecologies dem Thema Arbeit, ihren Klängen und Narrativen verschrieben hat. "Wir wollten etwas Zeitgenössisches zeigen, das aber so alt ist wie die Menschheit selbst", sagt Ndikung. "Arbeit hat es immer schon gegeben." Das Spektrum reicht von Haus- über Zwangsarbeit bis zu Sexarbeit.

Installationen zu postkolonialen Diskursen in der Eusebiuskirche: "Parliament of Ghosts" von Ibrahim Mahama und dahinter "Electric Dub Station (Orbital Ignition)" von Antonio Jose Guzman und Iva Jankovic.
Foto: Django van Ardenne

Historische Ebene

Zentral ist dabei die Beschäftigung mit Geschichte – sei es die der Stadt, des Zweiten Weltkriegs oder der Kolonialmacht. Mit der Einladung vieler außereuropäischer, insbesondere afrikanischer und generell bekannter Positionen werden spannende Sichtweisen eröffnet und historische Ebenen miteinander verwoben. Um der Stadt nachhaltig etwas zu hinterlassen, wurde die dürftig archivierte Geschichte der Sonsbeek rekonstruiert.

"Manchmal glaube ich, dass zeitgenössische Kunst das Potenzial hat, die Wunden der Zeit zu heilen", sagt Ndikung. "Aber es ist nicht ihre einzige Verantwortung. Kunst hat eine ästhetische Mission zu erfüllen. Und sie muss von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart erzählen."

Hangar wird Pavillon

So werden in der Stadsvilla im Park Sonsbeek die versteckte Geschichte der englischen Anlage und Schicksale versklavter Zwangsarbeiterinnen erzählt. Unsichtbares wird sichtbar gemacht. Die Künstlerin Justine Gaga lockt direkt vor der Villa Zypendaal – deren frühere Bewohner Plantagenbesitzer waren – in ein Labyrinth. Und Olu Oguibe beleuchtet aktuelle Diskurse. LED-Schriftzüge sprechen für sich: "Sex Work Is Honest Work".

Die spannendste Konfrontation der gesamten Schau ergibt sich etwas außerhalb von Arnhem auf einer ehemaligen deutschen Militärbasis. So läuft die Dokumentation von Hira Nabi über harte Arbeitsbedingungen pakistanischer Tagelöhner in einem Munitionskeller. Und die Künstlerin Sunette L. Viljoen funktioniert einen abgelegenen Hangar, der im Krieg als landwirtschaftliches Gebäude inmitten eines Feldes getarnt wurde, zum historisch behafteten Kunstpavillon um.

Zwar gibt es Kleinigkeiten zu bemängeln wie der Mangel an Informationen oder englischen Texten vor Ort. Warum dieses bereits so lang bestehende und kraftvolle Ausstellungsformat aber international (noch) nicht so bekannt ist, verwundert. Ohne Zweifel sollte es seinen fixen Platz im Kunstkalender finden. (12.7.2021)

Die Reise erfolgte auf Einladung des Festivals Sonsbeek.