Es bebt die Hand vor Wut und Lust. Was den älteren Mann, der sich genüsslich an die Lehne des Sofas klammert, aufregt, ist die Dreyfus-Affäre. Was ihn erregt, ist eine junge Frau, die ihn oral befriedigt. Die Lust weicht bald dem Krampf. Am Höhepunkt stirbt der Mann, bei dem es sich um niemand Geringeren als Frankreichs Präsidenten Félix Faure handelt. Die Geliebte Marguerite Steinheil hingegen taucht später als Polizeispitzel wieder auf.

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Die französische Historienkrimiserie Paris Police 1900, zu sehen ab Mittwoch auf Sky, beginnt deftig – und legt beharrlich nach. Zeitungsverkäufer, die das linksliberale Blatt L’Aurore verkaufen, in dem Émile Zolas berühmter Artikel "J’Accuse ...!" erschien, werden gnadenlos verprügelt. Eine Frau ist verschwunden und taucht als zerstückelte Leiche wieder auf. Fabien Nury, bekannt für seine Graphic Novels, entwirft in seiner Serie ein grimmiges Noir-Panorama des antisemitisch aufgeheizten Paris an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Bekannte historische Fakten mischen sich mit Fiktionen.

Vorurteile ablegen

Im Zentrum von Paris Police 1900 steht mit Kriminalinspektor Antoine Jouin (Jérémie Laheurte) ein etwas naiver junger Mann reinen Herzens, der seine Vorurteile Schritt für Schritt ablegen muss. Dieser Logik entsprechend verliebt er sich natürlich ausgerechnet in jene junge, starke Frau, die in einer Männerwelt zunächst nur Häme erntet, als sie sich als Anwältin vorstellt. Frauen ergeht es in Paris Police 1900 oft schlecht, zur kriminellen Gewalt gesellt sich verlässlich die häusliche.

Foto: Sky / Tetra Media Fiction/Canal+

Außer mit bizarren Morden bekommt es der Inspektor mit nichts weniger als einer Verschwörung gegen die Dritte Französische Republik zu tun. So instrumentalisiert die Antisemitische Liga um den Journalisten Louis Guérin (Anthony Paliotti) sowohl den ungewöhnlichen Tod von Präsident Faure als auch den vermeintlichen Hochverrat des jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus für ihre Zwecke. Anders als Roman Polanskis subtil-beklemmender Spionagethriller J’Accuse interessiert sich Paris Police 1900 aber nur sehr oberflächlich für die Mechanismen der Verfolgung.

Die Serie präsentiert Zeitgeschichte mit distanziertem Blick als eine Parade schauriger Sensationen. Vor dem Hintergrund eines Konglomerats aus Morden, Erpressung und Verschwörungen agiert eine Vielzahl an Figuren – von einer Anarchistengruppe bis zum ins Amt zurückgerufenen Polizeipräfekten Louis Lépine (Marc Barbé), der auf Innovationen wie Telefon, Fahrradpolizei und forensische Spurensuche setzt.

Prestigeproduktion

Paris Police 1900 mutet nicht nur wegen des Mix aus Kriminalhistorie und Fiktion wie eine französische Version von Babylon Berlin an. Mit einem kolportierten Budget von 16 Millionen Euro handelt es sich auch hier um eine Prestigeproduktion. Von Canal Plus sollen mindestens vier Staffeln geplant sein, die jeweils um ein spezielles Thema bzw. einen Fall kreisen.

Nicht immer schaffen es die acht rund 50-minütigen Folgen der ersten Staffel, einen erzählerischen Sog zu entwickeln. Kompensiert wird die bisweilen mäandernde Dramaturgie aber durch starke Bilder, die ganz klar die Handschrift des Graphic-Novel-Spezialisten Fabien Nury (Je suis Légion) erkennen lassen. Gefilmt in elegantem Cinemascope, ganz ohne Handkamera oder Drohnenaufnahmenexzesse, würden die dramatisch zugespitzten Bildkompositionen und Schnittfolgen wohl auch in Buchform die Aufmerksamkeit fesseln.

Foto: Sky / Tetra Media Fiction/Canal+

Hinzu kommt schwarzer Humor, der an unvermuteten Stellen aufblitzt. Das gilt nicht nur für den Präsidententod zum Auftakt oder eine Damenrunde der feinen Gesellschaft, die sich dem Heroinrausch hingibt. Besonders entlarvend ist der ironische Blick in einer Szene, in der eine Séance zelebriert wird. Die teilnehmenden Antisemiten werden dabei dem preisgegeben, was sie so gar nicht ertragen können: gnadenloser Lächerlichkeit.

Im Zentrum von "Paris Police 1900" steht mit Kriminalinspektor Antoine Jouin (Jérémie Laheurte) ein etwas naiver junger Mann reinen Herzens. (Karl Gedlicka, 13.7.2021)