Trifonow.

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Bulgarien droht nach der Parlamentswahl eine wochenlange Hängepartie. Die Auszählung der Stimmen verläuft äußerst knapp: So meldet die Nachrichtenagentur Reuters nach Auszählung von 95 Prozent der Stimmen, dass die konservative Partei GERB von Ex-Ministerpräsident Bojko Borissow mit 23,9 Prozent hauchdünn stärkste Kraft sei. Dicht dahinter liegt den Ergebnissen vom Montag zufolge die Anti-Establishment-Partei ITN ("Es gibt ein Volk") des populären Fernsehmoderators und Sängers Slavi Trifonow mit 23,7 Prozent.

Laut einem anderen Bericht, der sich auf ein amtliches Zwischenergebnis stützt, hat indes Trifonow die Wahl hauchdünn mit 23,91 Prozent vor der GERB (23,69 Prozent) gewonnen.

Trifonow plant bereits Kabinett

Die stärkste politische Kraft im Parlament soll laut Verfassung als erste einen Regierungsauftrag erhalten. Noch vor Bekanntgabe des amtlichen Zwischenergebnisses stellte Trifonow bereits am Montagvormittag sein Kabinett vor und verkündete, dass seine Formation im neuen Parlament keine Regierungskoalition anstreben werde, sondern eine eigene, großteils aus neuen Gesichtern bestehende Regierung aufstellen wolle. Es war zunächst unklar, ob Trifonow sein Kabinett aus Experten im Alleingang aufgestellt hat oder nach Beratungen mit den anderen Protestparteien.

Alter Wien-Bekannter als Außenminister?

Ministerpräsident soll Nikolaj Wassilew werden, er war Vize-Regierungschef und Wirtschaftsminister in zwei bulgarischen Regierungen unter der Führung und mit der Beteiligung des ehemaligen Exil-Monarchen Simeon von Sachsen, Coburg und Gotha. Als Außenminister wird Radi Najdenow angekündigt, ein Karrierediplomat, Ex-Außenminister in der Interimsregierung 2017 und früherer Botschafter Bulgariens in Wien und Berlin, heute Botschafter des Landes in der Schweiz.

Darüber hinaus sind die von Trifonow in seinem Pay-TV-Sender 7/8 verkündeten Nominierungen für die Ministerposten meist junge, in den USA und Westeuropa ausgebildete Experten, die bisher keine politische Erfahrung haben. Die Juristin Lilia Ivanova, die unter anderem in Linz und Bonn studierte, soll laut bulgarischer Nachrichtenagentur BTA Arbeits- und Sozialministerin werden. Zum ersten Mal soll Bulgarien auch einen Minister für Fragen der Roma-Minderheiten bekommen.

Endergebnis am 18. Juli

Die Zentrale Wahlkommission (ZIK) hat bisher 98,92 Prozent der Stimmen im Inland ausgezählt, viel weniger aber aus dem Ausland. Wahlberechtigte Bulgaren haben in 68 Ländern, darunter auch Österreich, abgestimmt. Die populistische ITN gehört zu den Favoriten der im Ausland lebenden Wählergruppe. Nach Schließung der Wahllokale im Inland gab es nur Prognosen von Meinungsforschern. Das Endergebnis soll am 18. Juli vorliegen.

Trifonows 2020 gegründete Partei ITN ist nicht im EU-Parlament vertreten, während Borissows GERB zur Europäischen Volkspartei (EVP) gehört – ebenso wie die ÖVP. Die ITN strebt die Einführung eines Mehrheitswahlrechts an, um das System der alten Parteieliten zu verändern.

Zahlenspiele

Die oppositionellen Sozialisten (BSP) kamen dem Zwischenergebnis zufolge mit 13,51 Prozent auf Platz drei. Es galt als sicher, dass ins Parlament in Sofia drei weitere Protestkräfte einziehen: die konservativ-liberal-grüne Koalition Demokratisches Bulgarien/DB (12,56 Prozent) und das Protestbündnis "Richte dich auf! Mafiosi raus!" (5,03 Prozent). Die wirtschaftsliberale DPS lag bei 10,66 Prozent. Insgesamt sechs Parteien konnten somit die Vier-Prozent-Hürde überwinden – nicht aber die Nationalisten.

Bei dieser Kräfteverteilung hat das Anti-Borissow-Lager die absolute Parlamentsmehrheit verfehlt. Eine Zusammenarbeit mit Borissows GERB schließen seine Gegner aus, da sie Borissows früherer Koalitionsregierung Korruptionspraktiken vorwerfen. Borissow dürfte keine Partner mehr finden, um wieder zu regieren.

Es wurde aber nicht damit gerechnet, dass es dem 62-jährigen Borissow gelingen würde, eine stabile Regierung zu bilden. Trifonow kündigte den Versuch der Bildung einer Minderheitsregierung an.

Korruptionsvorwürfe

Das Ergebnis wirft ein Schlaglicht auf die tiefe Spaltung des ärmsten EU-Landes. Trotz Korruptionsvorwürfen siegte Borissows Partei bereits beim letzten Votum im April, scheiterte aber mit einer Regierungsbildung.

ITN werden diesmal größere Chancen zugetraut, eine Koalition schmieden zu können. Trifonow kann sich auf die Unterstützung von zwei kleinen Parteien verlassen, die sich ebenfalls dem Kampf gegen die Korruption verschrieben haben.

Viele Bulgaren hoffen auf ein entschiedenes Vorgehen gegen Vetternwirtschaft und Bestechung. Sie werfen Borissow vor, nicht entschlossen genug gegen mächtige Oligarchen vorzugehen oder diese sogar zu unterstützen. Seine Anhänger halten Borissow dagegen zugute, sich um eine Modernisierung der maroden Infrastruktur zu bemühen und für höhere Gehälter von Staatsbediensteten zu sorgen.

Bulgarien könnte nun vor wochenlangen Koalitionsgesprächen oder sogar einer weiteren Wahl stehen. Dies dürfte die Bemühungen des Landes ausbremsen, sich Gelder aus dem milliardenschweren EU-Wiederaufbaufonds zu sichern und den Staatshaushalt für 2022 zu verabschieden. (APA, Reuters, red, 12.7.2021)