Ob es wirklich legal ist? So wirklich, sagt Carmen Sieira-Garcia, habe sie darüber nie nachgedacht. Nicht nur, weil "Wer fragt, riskiert ein Nein" beim Erobern öffentlicher Räume fast so wichtig ist wie Hausverstand und Rücksicht. Sondern weil das Beklettern von "Stadtmauern" in Wien seit Jahren gelebte Praxis ist. "Als die Kletterhallen im Lockdown geschlossen wurden, stand ich vor dem Nichts – aber bewegen wollte und musste ich mich", sagt die Lehrerin. Und als sie am Radweg von Hütteldorf in die Stadt "Boulderer" an den Mauern des Wienflusses sah, war ihr klar: "Das probieren wir auch: Man kommt ohne Auto her, wir haben die Kinder im Blick – und die Wände sind super."

Von Kricket bis Tennis: Die Lehrerin Carmen Sieira-Garcia bouldert seit dem Lockdown an den Mauern beim Wienfluss.
Mafalda Rakoš

Auch jetzt, wo die Hallen, die "offiziellen" Spielplätze, wieder offen sind, will die Mutter von zwei kleinen Kindern weiter beim Wienfluss klettern. Gewusst, dass das an Flussufereinfriedungen geht, habe sie schon lange.

Schließlich ist "Urban Bouldern" ein hinlänglich beschriebenes Phänomen. Es gibt sogar Routenpläne zu "Problemen" (so heißen Routen in diesem Sport), etwa für die legendäre "Flexwand" am Donaukanal. Bevor Carmen Sieira-Garcia Kinder hatte, kraxelte sie hin und wieder unter der Reichsbrücke – aber es brauchte Corona, um sie wieder regelmäßig Wände im öffentlichen Raum hochgehen zu lassen.

Am Wienfluss bereiten sich Carmen Sieira-Garcia und ihre Freundin aufs Bouldern vor.
Mafalda Rakoš

Die tägliche Turnstunde

Die Wienerin ist mit dieser Aneignung von Stadtraum nicht allein. Auf den ersten Blick sah es im vergangenen Jahr oft so aus, als habe die "tägliche Turnstunde" alle Kreise der Bevölkerung erreicht. Nie zuvor sah man mehr Läuferinnen und Läufer, "Walker" oder Rad fahrende Menschen in der Stadt. Bei öffentlichen Fitnessstationen und in Ballkäfigen schaute man lieber nicht, ob Abstands- oder Hygienemaßnahmen eingehalten wurden. Skateparks sind voller denn je, Pumptracks und Mountainbikeparcours ebenso. In Parks und auf Parkplätzen wurden Boule und Kricket, auf Wiesen Baseball und an Brückenpfeilern Tennis gespielt, als gäbe es dafür Geld. Und auf der Donauinsel traf man im Winter nicht nur Windsurfer, sondern sogar Schwertkämpfer (mit Holzwaffen).

Freiwasserschwimmkurse an der Alten Donau sind bestens gebucht. Nur die Neoprenanzüge sind Mangelware.
Susanne Einzenberger

Auch wenn all das grundsätzlich nicht neu ist, fiel die Intensität, in der die Stadt zum Sportplatz wurde, auf. Sie schuf das Narrativ, dass Corona die Welt und die Stadt sportlicher macht. Nur stimmt das mit Blick auf die Zahlen nicht ganz: Ja, 22 Prozent der Frauen und 17 Prozent der Männer haben laut Sportdachverband Sport Austria ihr Sporteln intensiviert. Aber ein Drittel hat weniger Bewegung gemacht. Und: Über ein Drittel der Österreicherinnen und Österreicher hat laut ASKÖ während der Pandemie um sechs Kilogramm zugenommen. Durchschnittlich – und pro Person.

Dennoch hat das Bild der Stadt als neu entdeckter Universalsportplatz seine Richtigkeit: Stadtjogger und Faltbootfahrer auf dem Donaukanal sieht man. Leere in Fitnesscentern aber ebenso wenig wie nichtfahrende Ruder-Achter auf der Alten Donau. Dafür kamen drei paar Nasen, die den Donaukanal zum Freiwasserschwimmrevier erklärten, auf Zeitungscover. Vom Kern der Botschaft – der niederschwellige "Sportplatz Stadt" – könnte aber etwas hängenbleiben, hoffen Bewegungs- und Gesundheitsvermittler.

"Wien ist eine fantastische Schwimmstadt", jubelt etwa der Schwimmtrainer Gerald Dygryn, betont aber, dass er da ausschließlich über das "Freiwasserschwimmen" spricht. Dygryns Freiwasserkurse sind bestens gebucht. "Der Reiz, die Natur pur, jederzeit, gratis und in Gewässern mit Trinkwasserqualität" zu erleben, fände mehr und mehr Anhänger. Der Haken: Neoprenanzüge (schützen vor Kälte und geben Auftrieb) sind oft ausverkauft. "Manche Firmen können erst im September liefern." Vom Donaukanalschwimmen hält Dygryn nichts: Enge und Schiffsverkehr machen das Schwimmen hier "saugefährlich – auch für gute Schwimmer. Es gibt 1000 bessere Orte."

Open-Air-Yoga

Philipp Dürnberger gibt Yogakurse im Türkenschanzpark oder vor der Akademie.
Mafalda Rakoš

An denen tummeln sich auch andere: Stand-up-Paddler zum Beispiel. Surfbrett-Stehpaddeln funktioniert kontemplativ oder kompetitiv – Letzteres findet aber kaum statt. Darum boomt SUP-Yoga auch heuer – obwohl ein "herabschauender Hund" auf dem Wasser leicht zum Seehund wird. Yogalehrer Philipp Dürnberger hält Open-Air-Klassen daher lieber im Türkenschanzpark ab. Park-Yoga sei mittlerweile normal ("Man starrt nicht mehr"), immer noch steige die Nachfrage. "Der Himmel ist schöner als jede Studiodecke – und Erdung in der Natur genau das, was ich vermitteln will."

12.000 Liter Strömung

Zurück aufs Wasser: "Echte" Natur, sagt Mario Lach, sei beim SUPen mitunter problematisch. Lach verleiht im Gänsehäufel und an der Neuen Donau Paddelbretter. Davon, "wild" in den Donauauen zu fahren, hält er wenig. "Der Nationalpark ist Naturschutzgebiet – mit Gründen. Auf dem Neusiedler See gibt es aber geführte Touren im Schilfgürtel."

Action auf dem Wasser findet man aber eher im Sitzen – und durchaus in der Stadt. Doch obwohl es die Vienna Watersportsarena seit 2013 auf der Donauinsel (Höhe Steinspornbrücke) gibt, sind City-Raften und -Wildwasserkajakfahren breiteren Bevölkerungskreisen immer noch unbekannt. Obwohl "Mildwasser"-Paddeln ein Corona-Gewinner ist: Wer aus dem M eine W machen will, kann das auf der 250 Meter langen Strecke der Arena probieren. Hier trainiert das Kajak-Nationalteam, aber es gibt auch regelmäßig Jedermensch-Kurse. Bis zu 30 Kajaks und acht Acht-Personen-Rafts sind dann hier unterwegs – und wer glaubt, dass das ein "Kindergeburtstag" sei, den bittet Betreiber Michael Straganz, das nach ein paar Runden mit 12.000 Liter Wasser "Strömung" pro Sekunde ("Das sind 80 Badewannenfüllungen") zu wiederholen.

Der Boom der Discgolfer

Freilich ist der mutmaßliche Hauptsportgewinner der Pandemie deutlich niederschwelliger. Schließlich kostet ein Leihfrisbee beim Tenniscenter an der Prater-Hauptallee gerade einen Euro. "Und zum ersten Schnuppern", sagt Matthias Polsterer, "genügt eine Scheibe." Polsterer spielt nicht Tennis, sondern Golf. Frisbeegolf. Da Frisbee aber ein Markenname ist, sagt man "Discgolf". Discgolf, so der Übungsleiter der Vienna Hurricanes, sei im letzten Jahr "explodiert". Von 100 auf fast 150 aktive Vereinsspielerinnen und -spieler allein bei den Hurricanes – und die sind nur einer von sechs Wiener Discgolfclubs. Wien hat zwei Discgolfanlagen, eine im Prater eine im Kurpark Oberlaa. Beide sind öffentlich und gratis zugänglich, daher kann niemand sagen, wie viele Menschen die bei Regeln und Wording sehr am "klassischen" Golf angelehnte Sportart neu entdeckt haben.

Discgolf erlebt weltweit einen Hype. Matthias Polsterer findet, dass der Sport vor allem erdet.
Mafalda Rakoš

Dem Augenschein nach viele: Sah man vor einem Jahr an den von den Körben bis zu 250 Meter entfernten "Tees" (Abwurfstellen) höchstens kleine Grüppchen, gibt nun an schönen Tagen oft Staus. Weltweit, sagt Polsterer, gehöre Discgolf zu den am schnellsten wachsenden Sportarten. Es gebe Profis mit Zehn-Millionen-Dollar-Sponsorverträgen, Welt- und Europameisterschaften. "Auch in Wien sind Leute dazugekommen, die viel Potenzial haben." Primär gehe es aber um Freude und Bewegung an der frischen Luft: Discgolf sei wie Golf ein Sport, der erde. Gut wirft nur, wer den Kopf frei hat. Der Fokus auf Ziel und Flugbahn helfe, dieses Ziel zu erreichen.

Mafalda Rakoš

Egal, ob bei Matthias Polsterers Weitwürfen, Philipp Dürnbergers Asanas im Park, Gerald Dygryns "Flow" im Wasser oder Carmen Sieira-Garcias vertikaler "Problembewältigung" an den Mauern im Wienflussbecken: Rundherum lärmt und vibriert eine Bald-Zwei-Millionen-Stadt. Aber inmitten des Trubels findet jeder und jede Wege, Orte und Möglichkeiten, im Kopf jene Ruhe und Stille zu spüren, ohne die die Stadt zwar Schlaf- und Arbeits-, aber nie Lebensraum sein kann. (Leben in Wien, 29.7.2021)