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Russlands Präsident hätte gerne ein Stück des ukrainischen Kuchens.

Foto: AP Photo/Dmitri Lovetsky, Pool, File

Eigentlich ist Wladimir Putin Jurist. Später, schon in gehobener politischer Stellung als Vizechef der Präsidialverwaltung, verfasste er noch eine Dissertation in Volkswirtschaft. In der jüngsten Vergangenheit jedoch hat der Präsident seine Vorliebe für Geschichte entdeckt. Einer Geschichte, die sich politisch instrumentalisieren lässt.

Ging es zunächst um die Vereinheitlichung von russischen Geschichtslehrbüchern, die einem neuen zentral vorgegebenen Geschichts- und Kulturverständnis zu folgen hatten, so betätigt sich der Kreml-Chef seit 2019 immer häufiger auch selbst als Autor historischer Abrisse.

Aufsatz über Ukraine

In seinem jüngsten Artikel geht es diesmal nicht um die Ursachen des Zweiten Weltkriegs, sondern holistisch um die russisch-ukrainische Geschichte. Überschrieben mit dem Satz "Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer" erweitert Putin in dem Aufsatz, der in beiden Landessprachen auf der Website des Kremls erschien, seine während der TV-Audienz Ende Juni geäußerte These, dass Russen und Ukrainer ein Volk seien.

Wichtig für das Verständnis der Denkweise im Kreml ist die darin implizierte Aussage, dass die Zweistaatlichkeit (beziehungsweise unter Einberechnung von Belarus sogar die Dreistaatlichkeit) ein Unfall der Geschichte ist, der vor allem in seiner Form zulasten Russlands ging.

Kritik an Habsburgern

Putin bedient sich in dem Zusammenhang bewusst der alten Terminologie von Großrussen, Weißrussen und Kleinrussen. Sie alle seien durch die gleiche Sprache, gleiche Traditionen und denselben orthodoxen Glauben vereint, wenn sie auch zeitweise durch polnische und später österreichisch-ungarische Gewaltherrschaft getrennt waren.

Neben Polen und Habsburgern kritisiert Putin auch die Bolschewiki, die seiner Ansicht nach ebenfalls zum Zwecke des Machterhalts Nationalismus gesät und die Ukraine faktisch erst auf die Landkarte gebracht hätten. Der von den Bolschewiki bei der Sowjetgründung eingebrachte Passus von einem möglichen Austritt sei eine "Zeitbombe" gewesen, die "explodierte, sobald die Führungsrolle der KPdSU als Versicherungs- und Präventivmechanismus verschwand", urteilte er.

Ungerechte Gebietszuwächse

Besonders bitter stieß dem russischen Präsidenten dabei auf, dass die Ukraine während ihrer sowjetischen Periode mehrfach Gebietszuwächse verzeichnete, wie die eroberten Teile Ostpolens und Rumäniens sowie später die Krim, die alle auch beim Austritt der Ukraine aus der Sowjetunion bei ihr verblieben. Dies sei aber ungerecht, da viele Gebiete eigentlich ursprünglich rein russischen Ursprungs seien. "Wenn ihr gehen wollt, dann geht, wie Ihr gekommen seid", machte er Gebietsforderungen deutlich, denn die Ukrainische Sowjetrepublik 1922 als Gründungsmitglied der Sowjetunion war deutlich kleiner als die Ukraine 1991.

Der Artikel sei eine Grundlage zur Diskussion auch über die Grenzen innerhalb der GUS, bestätigte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Dienstag. Gegen die Frage, ob dann auch Russland Territorien abgeben müsse, die es nach 1922 erhalten habe, verwahrte sich Peskow allerdings entschieden. "Die russische Föderation ist niemals aus der Sowjetunion ausgetreten", sagte er. Das ist formal richtig, allerdings galt Russlands Präsident Boris Jelzin ebenso als Treiber der Sowjetauflösung wie seine ukrainischen und belarussischen Kollegen Leonid Krawtschuk und Stanislaw Schuschkewitsch, die auf einer Staatsdatscha im belarussischen Wald Belowesch die Sowjetunion beerdigten und die Nachfolgeorganisation GUS aus der Taufe hoben.

Vorwurf der Russophobie

Zum Thema Grenzen hat Putin in seinem Artikel eine weitere brisante Passage parat. Dort geht es weniger um Geschichte als die aktuelle Politik in Kiew. Der dortigen Führung wirft Putin nämlich Fremdsteuerung durch den Westen, Russophobie und eine Zwangsukrainisierung vor, die sich speziell gegen die russischsprachige Bevölkerung im Donbass richte. Die ständigen Verstöße gegen das Minsker Abkommen hätten ihn zu der Ansicht gebracht: "Kiew braucht den Donbass einfach nicht", schrieb er.

Politologen bewerten diese Aussagen als klare Drohung: Sollte Kiew nicht bald Kompromissbereitschaft zeigen und die von Moskau gelenkten Separatistenregierungen der "Donezker und Luhansker Volksrepubliken" zu vollwertigen Verhandlungspartnern aufwerten, wird Russland seine Politik in der Richtung wieder aktivieren. Eine Anerkennung der Souveränität beziehungsweise ein Anschluss wie bei der Krim stehen als Möglichkeiten im Raum.

Ukraine "bedankt sich"

Der Text bedeute nicht unbedingt, dass sich Russen und Ukrainer auf einen neuen Krieg vorbereiten müssten, aber "der Kampf um den Frieden wird so grimmig wie nie zuvor", urteilte der Politologe Kyrill Martynow. Ironisch reagierte auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der sich bei Putin dafür bedankte, die "tiefe Analyse" auch auf Ukrainisch zur Verfügung gestellt zu haben. Prinzipiell wäre es jedoch besser gewesen, die Probleme bei einem persönlichen Treffen zu besprechen, sagte er.

Selenskyj bemüht sich seit geraumer Zeit um ein Gespräch mit Putin. Obwohl Peskow Moskaus grundsätzliche Bereitschaft zu solch einem Treffen bestätigte, blockt der Kreml konkrete Anfragen ab. Zuerst müsse ein solches Treffen auf der Ebene der Präsidialverwaltungen vorbereitet werden, beschied Peskow nun. (André Ballin aus Moskau, 14.7.2021)