Auge, ORF: Österreichs größter Medienkonzern vor der Bestellung des nächsten Generaldirektors.

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Wien – Die türkise Mehrheitsfraktion im Stiftungsrat hat ihre zweite Vorbesprechung der Generalswahl, geplant für kommenden Montag in der Politischen Akademie der ÖVP, vorerst ohne Ersatztermin abgesagt. Mit Lisa Totzauers (50) offizieller Bewerbung für den obersten ORF-Job dürfte das nur eher zufällig zeitlich zusammengefallen sein. Die erste deklarierte bürgerliche Kandidatin macht die Generalswahl für die ÖVP nicht unbedingt leichter.

Der bisher als wahrscheinlichster Kandidat aus dem bürgerlichen Lager gehandelte Vizefinanzdirektor des ORF, Roland Weißmann (53), hat bisher nicht Stellung genommen, ob er tatsächlich antritt. Weißmann nahm wie berichtet an der ersten vorbereitenden Sitzung des türkisen Freundeskreises teil und gilt als aussichtsreichster Kandidat.

"Nicht kommentieren"

Totzauer grätschte am Dienstag mit ihrer an das ORF-Publikum gerichteten Videobewerbung in das Vakuum bürgerlicher Kandidaturen gegen den schon deklarierten Titelverteidiger Alexander Wrabetz. Nicht zur einhelligen Begeisterung im bürgerlichen Freundeskreis der Stiftungsräte. Kanzler (und damit Medienminister) und ÖVP-Chef Sebastian Kurz sagte oe24.tv nur sehr knapp auf die Frage nach Totzauers Bewerbung: "Ich habe es registriert, werde es aber nicht von New York aus kommentieren."

Thomas Zach, Sprecher des bürgerlichen Freundeskreises im Stiftungsrat, sagte auf STANDARD-Anfrage, er werde "nicht jede Bewerbung kommentieren", wolle sich aber alle einlangenden Konzepte sehr genau ansehen.

Anleihen bei Van der Bellen

Totzauers Erklärung über ihre Bewerbung auf Twitter und per Onlinevideo auf lisatotzauer.at erinnerte an das Youtube-Video, mit dem Alexander Van der Bellen Anfang 2016 seine Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten bekanntgegeben hat. Mit "Mutig in die neuen Zeiten" betitelte sein Wahlkampfteam das Video. Totzauer spricht im Video von "großen Chancen" für den ORF, er brauche "viel Mut und Innovationskraft".

"Qualifizierte Persönlichkeiten"

Lothar Lockl, Sprecher des grünen Freundeskreises im Stiftungsrat, klang positiver in seiner allgemeinen Stellungnahme: "Es ist jetzt der Beginn der Bewerbungsphase. Es ist positiv, wenn sich qualifizierte Persönlichkeiten für die Funktion des Generaldirektors beziehungsweise der Generaldirektorin bewerben. Bevor wir die Konzepte und Vorstellungen von Kandidatinnen und Kandidaten kennen, ersuche ich um Verständnis, dass ich keine vorzeitigen Bewertungen abgeben möchte. Grundsätzlich steht der ORF vor großen Herausforderungen, Stichwort Digitalisierung. Es wird daher jedenfalls Veränderungswillen und ein starkes Team brauchen, um die Unabhängigkeit des ORF und die Erfüllung seiner wichtigen öffentlich-rechtlichen Aufgaben auch in Zukunft sicherzustellen."

Fragenkatalog der roten Räte

Der Sprecher der SPÖ-nahen Stiftungsräte im Stiftungsrat, Heinz Lederer, kündigte im Gespräch mit dem STANDARD einen Fragenkatalog an alle Bewerberinnen und Bewerber um den Generalsjob an. Er erwarte Antworten rechtzeitig vor dem Hearing am 10. August. Lederer will da etwa nach der Sicherung der Unabhängigkeit vor allem in der ORF-Information fragen, nach den Plänen für lineare Rundfunkprogramme (Totzauer betont stark die Präsenz auf Plattformen), andererseits nach den Plänen für die 4.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ORF und die Finanzierung, etwa GIS für Streaming. Lederer will auch erfragen, wie die Kandidaten das vom Stiftungsrat im Dezember einstimmig verabschiedete ORF-Strategiekonzept, verfasst von Wrabetz, sehen.

Totzauer und die Folgen

Was bedeutet Totzauers Antreten – und damit voraussichtlich mehrerer bürgerlicher Kandidatinnen und Kandidaten – für die Generalswahl am 10. August und für Alexander Wrabetz, der sich für eine weitere Amtszeit ab 2022 bewerben wird?

Unter sachkundigen Beobachtern aus ORF, Politik und Stiftungsrat gibt es – auch je nach eigenem Blickwinkel – unterschiedliche Interpretationen. Zwei der Möglichkeiten als Beispiel:

Mehrere bürgerliche Kandidatinnen und Kandidaten könnten die bürgerliche Mehrheitsfraktion spalten und damit womöglich die Chancen von Alexander Wrabetz erhöhen, der schon gezeigt hat, dass er recht bunte Koalitionen im Stiftungsrat zuwege bringt. 2006 etwa gegen die Kanzlerpartei ÖVP mit deren freiheitlichem Regierungspartner BZÖ, der FPÖ, den Grünen, der SPÖ und unabhängigen Stiftungsräten. Damals freilich hatte die ÖVP nicht allein die entscheidende Mehrheit im ORF-Stiftungsrat.

Variante zwei: Mit mehreren bürgerlichen Kandidaten und Kandidatinnen können die bürgerlichen Stiftungsräte nur schwer intern angesichts der ersten bürgerlichen Mehrheit seit Jahrzehnten argumentieren, dass sie für – den Sozialdemokraten zugerechneten – Wrabetz stimmen. Auch wenn das wohl nach außen das geringste Aufsehen machte und die geringste Gefahr von Vorwürfen der "Orbánisierung" birgt.

Halbzeitlösung

In den vergangenen Wochen kursierte – wieder einmal – die Möglichkeit einer Halbzeitlösung mit der Verlängerung von Alexander Wrabetz als General und Weißmann vorerst als starkem Finanzdirektor, der mit einer ORF-Gesetzesnovelle 2023 oder 2024 die Nummer-eins-Position übernehmen könnte.

Doch die türkisen Stiftungsräte haben jetzt erstmals seit Jahrzehnten eine Mehrheit. Im Frühjahr 2022 wird der Stiftungsrat turnusmäßig neu beschickt, je nach Regierungskonstellation wohl mit weiterhin starker ÖVP-Dominanz. Doch jede neue Regierungskonstellation, jede Nationalratswahl und jede Landtagswahl ändert die Verhältnisse auch im obersten ORF-Gremium.

Der Seufzer eines ÖVP-Stiftungsrats vom Jahresbeginn lässt sich inzwischen abwandeln. "2016 hatten wir einen Kandidaten und keine Mehrheit. Jetzt haben wir eine Mehrheit und keinen Kandidaten." Nun müsste es heißen: "Jetzt haben wir eine Mehrheit, aber mehrere bürgerliche Kandidaten." (Harald Fidler, 14.7.2021)