Macht klug dosierter Alkohol das Leben schöner? Mads Mikkelsen stellt sich in "Der Rausch" diesem Experiment.
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Von Actionhelden bis zu ausgefeilten Charakterrollen reicht das Profil des dänischen Schauspielers Mads Mikkelsen. Einen seiner beeindruckendsten Parts liefert er jetzt in Der Rausch als Lehrer in der Midlifekrise, der sich einem ungewöhnlichen Gruppenexperiment stellt: Just Alkohol soll dem Leben wieder Fahrt verleihen. Mikkelsen hat schon öfter mit Regisseur Thomas Vinterberg geabeitet, Der Rausch ist ihr bisher größter Erfolg. Vinterberg wurde mit dem Oscar für den besten internationalen Film prämiert, Mikkelsen erhielt den europäischen Filmpreis.

STANDARD: Michael Caine hat behauptet, man erkenne einen guten Schauspieler daran, wie er einen Betrunkenen spielt. Stimmen Sie zu?

Mikkelsen: Das ist ein guter Test für einen Schauspieler. Es ist schwierig, weil man schnell sieht, wenn man etwas falsch macht. Der Trick ist, nur einen Halbbetrunkenen zu spielen. Man muss sich anstrengen, nicht betrunken zu wirken. Wenn man sich langsamer bewegt, präziser erscheinen will, dann sieht man, wie die Figur die Situation meistern will. Für unser Unterfangen war das nicht genug, wir mussten ein Charlie-Chaplin-Level erreichen.

STANDARD: Wie in der Supermarktszene, wo sich niemand mehr auf den Beinen halten kann?

Mikkelsen: Das ist das Schwierigste. Aber wenn man auf Youtube recherchiert, wie wir das getan haben, übertrifft das jede Vorstellung. Es ist unglaublich, wie betrunken Leute sein können. Davon haben wir uns inspirieren lassen, also wie man fallen oder wie dämlich man sich in dem Zustand verhalten kann.

STANDARD: Am Anfang steht diese großartige Abendessenszene, bei der ihre Figur Martin das erste Mal wieder trinkt und ihn plötzlich seine Gefühle überwältigen. Wie ist das entstanden?

Mikkelsen: Es war eine Szene, die ich sehr mochte. Nach ein oder zwei Gläsern steigt alles, was in seinem Leben geschehen ist, plötzlich hoch. Er verlor fast seinen Job, seine Frau schenkt ihm keine Aufmerksamkeit mehr, seine Studenten hören ihm nicht zu. Er tut sich selbst leid. Es ist ein lächerlicher Moment, zugleich ein schöner, weil etwas Wahrhaftiges an ihm erkennbar wird. Normalerweise wird so etwas nicht gemacht, Tränen fließen in einem Film in der Regel immer erst viel später. Es ist riskant, weil man sich als Zuschauer fragt, warum er so agiert.

STANDARD: Er befindet sich in der Midlife-Crisis, auch wenn es das Wort nicht ganz trifft.

Mikkelsen: Genau, aber man kommt nicht darum herum. Er sieht es vielleicht nicht einmal als Krise. Jede Kraft hat ihn verlassen. Er steht an einem Bahnsteig, von dem der Zug gerade abgefahren ist. Er erkennt, dass er andere Träume, andere Visionen hatte. Und er hat vergessen, all das zu lieben, was er hat.

STANDARD: Kann man sich bei der Verkörperung solcher Gefühle auf fehlendes Selbstbewusstsein beziehen?

Mikkelsen: Es hat auf jeden Fall mit Selbstvertrauen zu tun. Wie er seine Schüler unterrichtet, das ist wirklich eine Katastrophe. Ich würde mich als Elternteil beschweren! Ich selbst bin da ganz anders. Ich versuche immer, in der Gegenwart zu leben und sie wertzuschätzen. Ich finde jeden Sonnenaufgang großartig. Ein neuer Tag, eine neue Tür, die man öffnen kann. Martin hat aufgehört, Türen zu öffnen.

STANDARD: Als Thomas Vinterberg mit Ihnen "Die Jagd" gedreht hat, meinte er, es gehe um Männlichkeitskrisen. Ist "Der Rausch" dazu ein Begleitstück?

Mikkelsen: Nein. Ich weiß, Thomas hat viel darüber gesprochen. Im Stillen habe ich ihm widersprochen. Es gibt heute viel über Männlichkeit zu sagen. Die nächste Generation wird es schwerer damit haben, ein Mann zu sein. Es wird brutaler werden. Der Film handelt aber nicht davon, glücklicherweise muss ich fast sagen, denn das langweilt mich alles schon so. Es geht um Freundschaft und darum, das Leben zu bejahen, das Telefon abzuheben und jemandem zu sagen, dass man ihn liebt.

STANDARD: Die Freunde starten mit dem Alkohol ein Gruppenexperiment – gemäß der Maxime, dass man betrunken besser durchs Leben kommt. Was halten Sie selbst von dieser Idee?

Mikkelsen: Der Wissenschafter Finn Skårderud kam vor 20 Jahren damit daher und wurde sehr kritisiert. Die Filmcharaktere nehmen das Experiment an. Wir sagen einfach, der Alkohol ist da, die Leute benutzen das, und zwar zweitausend Jahre lang. Nicht wenige Paare hätten einander nie kennengelernt, wenn kein Alkohol im Spiel gewesen wäre. Das ist ein Fakt. Es ist ein Weg, der Schlafzimmer öffnet. Man wird mutiger, kann die Konversation beginnen. Aber 0,5 Promille konstant durch den Tag zu halten, das braucht natürlich große Mühe.

STANDARD: Es muss schiefgehen.

Mikkelsen: Ja, je nachdem, wie man darauf blickt. Manche Leute sind freilich funktionale Alkoholiker.

STANDARD: Im Film gibt es eine Tanzszene. Sie haben ja Tanz studiert, warum sieht man das so selten?

Mikkelsen: Thomas wollte das schon immer nützen und fand es perfekt für den Film. Ich hab es als Fantasie gesehen, er beharrte darauf, dass es real ist und die Figur charakterisiert. Er hat recht behalten. Aber so etwas passiert selten in einem Film, wenn es kein Musical ist. Es kann sehr prätentiös wirken.

STANDARD: Wie viel hat Tanz mit Schauspiel zu tun?

Mikkelsen: Tänzer sind disziplinierte Menschen. Wenn man einen Probenraum hat, der um neun aufschließt, tauchen die Tänzer schon um acht auf. Anders bei Schauspielern: Die kommen immer zu spät. Diese Disziplin gibt es im Schauspiel nicht, oder sagen wir: Es ist eine andere Art von Disziplin.

STANDARD: Apropos Körperbeherrschung. Ich habe gelesen, Sie waren als Kind ein großer Fan von Bruce Lee.

Mikkelsen: Immer noch, er ist eine ikonische Figur. Seine Eleganz ist so pur. Für mich sind Bruce Lee und Buster Keaton die Größten: Beiden reicht ein Minimum für den größtmöglichen Ausdruck. Ich habe unbewusst wohl immer versucht, mich beim Spiel an ihren Gesichtern und ihrer Eleganz zu orientieren. (Dominik Kamalzadeh, 15.7.2021)