86 Lichtstrahlen symbolisierten am fünften Jahrestag des Anschlags die 86 Menschen, die auf der Promenade Nizzas starben.

Foto: NICOLAS TUCAT / AFP

Frankreichs Premierminister Jean Castex beim Gedenkort für die Opfer in Nizza.

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Jérôme und Camille leiden noch immer unter den Folgen des Anschlags.

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Camille wollte das Feuerwerk eigentlich auf der Promenade des Anglais verfolgen, gerade beim Hard-Rock-Café, wo dann der Sattelschlepper vorbeiraste. Doch ihr Lebenspartner Jérôme war dagegen; und um der Menschenmenge zu entgehen, richteten sich die beiden mit ihrem dreijährigen Sohn unten am Strand ein.

Dann begann der Horror. "Schüsse fielen, Menschen mit aufgerissenen Augen rannten herbei", erzählt die heute 41-jährige Beamtin im Departmentsrat. "Alle flohen über die Kieselsteine oder durch die plätschernden Wellen. Dann kam uns eine noch größere Menge entgegen. Alle schrien durcheinander: ‚Sie sind da! Sie kommen!‘" Wer es war, wusste niemand.

Im Stiegenhaus versteckt

Camille hatte einen Gedankenblitz: Ins Meer! Nein, in die andere Richtung. Das in Nizza wohnhafte Paar flüchtete mit seinem Kind im Arm auf die Promenade, ohne von der Amokfahrt des 19-Tonners zu wissen. Leichen und Verletzte lagen am Boden. Ein Restaurant war geöffnet und voller Leute, sie schrien: "Es gibt keinen Platz mehr!"

Camille und Jérôme nahmen eine Seitenstraße, hielten einen ausländischen Wagen an und gestikulierten: "Attentat, Attentat!" Doch der Fahrer beschleunigte nur. "Schließlich fanden wir eine offene Tür in ein Wohngebäude", erinnert sich Camille. "Wir atmeten durch, bis jemand im Treppenhaus auf den Lichtknopf drückte. Sofort kehrte die Panik zurück. Wir alle glaubten, die Scharfschützen würden uns jeden Moment finden."

Angst vor Schüssen

Seither sind fünf Jahre vergangen. Camille, zum Zeitpunkt des Attentats im ersten Monat schwanger, brachte eine Tochter auf die Welt. Aber vor den Snipern, die es gar nicht gegeben hatte, hat sie immer noch Angst. "Wenn ich einkaufen gehe, schaue ich zuerst, wo die Notausgänge sind. Mit dem Trödeln ist es vorbei: Ich erstelle jedes Mal eine genaue Einkaufsliste und beeile mich, sie zu erledigen. Das Flanieren haben ich auch verlernt."

In einer Menge fühlt sich die schmächtige Frau mit den braunen Haaren heute unwohl. Die Tram meidet sie, lieber fährt sie mit dem Fahrrad zur Arbeit – über die Promenade des Anglais. Jeden Tag muss sie den Ort des Horrors passieren. Camille schafft es, indem sie vor sich hinsingt. "Wenn ich am Morgen am Meer entlang zur Arbeit fahre, ist das Sonnenlicht besonders schön. Und auf der Radspur fühlt man sich nicht eingesperrt und trotzdem sicher."

Schuldgefühle der Überlebenden

Dieses Gefühl der Sicherheit, das ist heute das Wichtigste für Camille und Jérôme. Gleich nach dem Attentat hatte er sogar Angst, dass die "Terroristen" in ihre Wohnung im dritten Stockwerk hinaufklettern könnten. Camille, die gerade mal 50 Kilo wiegt, stellte sich laufend vor, wie es wäre, mit einem Attentäter physisch zu ringen. Im Büro überlegte sie sich, welchen Schrank sie im Fall einer Attacke zuerst vor die Tür rücken würde.

Dabei wähnt sich das Paar noch glücklich, dass von ihrer Familie niemand zu den 86 Toten und 450 Verletzten gehört. "Im Opferverein 'Promenade des Anges' gibt es Eltern, die haben ein Kind verloren", sagt Camille, ihre Stimme nur mühsam kontrollierend. "Die Autopsien dauerten wochenlang, es gab Organentnahmen – nicht auszuhalten für eine Mutter." Voller Schuldgefühle fügt sie an, sie selber verdiene die staatliche Opferentschädigung von 5.000 Euro "eigentlich gar nicht".

Trauer und Wut

Die im Sozialbereich tätige Frau räumt ein, sie habe gelernt, "mit dem Trauma zu leben"; ganz verschwinden werde es aber nie. "Das Attentat ist heute Teil von mir." Sie wolle nicht in die Details gehen, sagt sie, aber Nervenspannung, Reizbarkeit und Schlaflosigkeit hielten sich bis heute, auch wenn die Therapie geholfen habe.

"Sie neigt eher zu Trauer, und sie arbeitet daran, während ich immer wieder von Wut erfasst werde", resümiert Jérôme. Der 42-jährige Kunststofftechniker geriet gleich nach dem Attentat mit einem Nachbar in Streit, als dieser an seinem Balkon eine riesige Frankreich-Flagge aufspannte. "Das ist ein Anhänger Le Pens. Aber wir wollten nicht, dass jemand das Attentat politisiert", erklärt Jérôme. "Zudem glaubten wir in unseren Wahnvorstellungen, dass die Flagge andere Attentäter anziehen könnte."

Veränderte Stadt

Bis heute bleibt das Paar auf der Hut – wie ganz Nizza. "Die Stadt hat sich enorm verändert", findet Jérôme. Wer genau hinschaut, stößt überall auf Betonblöcke, Eisenkabel, Absperrungen Überwachungskameras. Vor jeder Schule wurde ein Druckknopf angebracht, mit dem Passanten Alarm schlagen können.

Die anfängliche Polemik um die Frage, ob die Verkehrspolizei den Lkw fahrlässig auf die Promenadenstraße durchgewinkt habe, lässt Camille kalt: "Im Nachhinein ist es immer leicht, ein Fehlverhalten anzuprangern."

Gedanken bei den Opfern

Zum Attentäter, einem 31-jährigen Tunesier, der am Steuer eines gemieteten Lastwagens nach seiner fast zwei Kilometer langen Amokfahrt niedergeschossen wurde, hat sie keine Meinung: "Ich denke nicht an den Täter." Damit ist das Thema für sie erledigt. Dass acht Angeklagte wegen Waffenbeschaffung und möglicher Komplizenschaft in einem Jahr vor Gericht kommen sollen, obwohl sie jede Mitwisserschaft bestreiten: Davon haben Camille und Jérôme am Rande gehört. Es interessiert sie aber weniger als das Schicksal der zahllosen Opfer.

Mitte Juli, wenn sich der Quatorze Juillet nähert, kommt wieder alles hoch. Der Nationalfeiertag ist für sie der Schreckenstag. "Wenn der 14. Juli näherrückt, ist uns nicht mehr wohl", sagt Jérôme. "Wir schlafen schlecht, sind völlig erschöpft." Als müssten sie noch heute um ihr Leben rennen, auf der Flucht vor den Schüssen der eingebildeten Sniper. (Stefan Brändle aus Paris, 15.7.2021)