Die Konflikte haben sich verschärft und in das familiäre Umfeld verlagert.

Foto: Christian Fischer

Mit Parasiten verseuchte Masken, Lockdowns als Zeichen einer Diktatur oder giftige Impfungen – im Laufe des letzten Jahres bedienten sich Corona-Leugner und "Querdenker" zunehmend kruderer und extremerer Verschwörungserzählungen. Auf Telegram überschwemmt sich die Szene gegenseitig tagtäglich mit ausschließlich jenen "Informationen", die ihre Positionenen bestärken. Inhalte sind dabei immer öfter rassistisch oder antisemitisch, wie man beobachten konnte. Doch Österreich öffnet – wenn auch teilweise mit Einschränkungen –, und immer mehr Maßnahmen fallen: Was bedeutet das für die Verschwörungs-Community?

Viel scheint sich nicht verändert zu haben, was sich sowohl bei Beratungsstellen für Betroffene als auch auf dem Messenger-Dienst zeigt: "Die Inhalte haben sich verändert, aber nicht die Anzahl der Anrufe. Wir bemerken überhaupt keinen Unterschied, seit die Corona-Bestimmungen gelockert wurden", betont Ulrike Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen im STANDARD-Gespräch. Primär gehe es inzwischen darum, dass geimpfte Menschen eine Gefahr darstellen würden, "beziehungsweise darum, dass jemand sagt, der Partner oder die Partnerin will sich scheiden lassen, weil ich mich impfe". Während bisher meistens die Regierung oder zum Feindbild erkorene Personen wie Bill Gates angegriffen wurden, werde inzwischen auf einer sehr viel persönlicheren Ebene diskutiert.

Druck in der Familie

Laut Schiesser geht es jetzt um die Frage des zwischenmenschlichen Umgangs. Insbesondere in Familien erhöhe das den Druck, zwischen Eltern würden Konflikte über mögliche Schulabmeldungen der Kinder entflammen, durch die Tests verhindert werden sollen. Aber auch rund um die Frage, ob man die eigenen Sprösslinge denn impfen lassen solle oder nicht.

In reichweitenstarken Telegram-Kanälen wird das Schreckgespenst Impfung als Gefahr für Kinder bezeichnet.
Foto: Screenshot/Telegram

Diese Schilderungen decken sich auch mit den Beobachtungen des STANDARD. Während in einschlägig bekannten Telegram-Gruppen lange Zeit die Lockdowns und die "neue Weltordnung" (also das Heraufbeschwören eines bevorstehenden marxistisch-totalitären Systems) im Fokus standen, ist es jetzt die Corona-Schutzimpfung – und zwar auf unterschiedlichste Art und Weise. Impfgegner stellen sich dabei einerseits als Opfer der Regierung dar, andererseits versuchen sie den Eindruck zu vermitteln, dass geimpfte Menschen sie – und vor allem Kinder – in Lebensgefahr bringen würden. Der Grund? Sie würden Spike-Proteine absondern. Nach Kontakt mit Geimpften bekomme man "Shedding-Symptome", weil diese Viren freisetzen würden.

Belege für die falschen Behauptung gibt es keine, geteilte Inhalte stammen meist von bekannten Fake-News-Plattformen, rechtsradikalen Nachrichtenmedien oder auch von Betreibern anderer Telegram-Kanäle. Als Behandlung vermeintlicher Symptome wird die Einnahme von Chlordioxid geraten, nicht selten werden passende Präparate gleich zum Kauf angeboten. Von der Einnahme ebensolcher warnt das Bundesamt für Sicherheit und Gesundheitswesen (BASG) jedoch eindringlich. Für die behaupteten positiven Effekte gebe es keinerlei wissenschaftliche Belege, "vielmehr handelt es sich um ein Gas, welches Verätzungen und Vergiftungssymptome hervorrufen kann".

Doch nicht nur das: In eigens für Ungeimpfte eingerichteten Gruppen werden Geimpfte als "Laborratten" bezeichnet, die sich wie Tiere verhielten. Erstere erzählen hingegen von Herpes-Infektionen oder Schmerzen am Steißbein, nachdem sie mit diesen in Kontakt kamen.

Kontaktabbruch im engsten Umfeld

Doch was bedeutet das konkret für das echte Leben? Ein Beispiel gibt Ulrike Schiesser: Eine Klientin habe ihr erzählt, dass sie regelmäßig eine Esoteriktherapie besucht habe. Als die behandelnde Person jedoch von ihrer Impfung erfuhr, habe sie sofort die Therapie abgebrochen, denn sie berühre "niemanden, der geimpft ist". Sie sei davon unglaublich betroffen gewesen, da es sich um eine persönlich sehr gute Beziehung gehandelt habe. "Wer bin ich, wenn mir jemand sagt, ich will nicht im selben Raum mit dir sein, weil ich dann unfruchtbar werde? Das sind heftige Vorwürfe", die aus dem engeren Umfeld kommen würden.

So bedrückend diese Schilderung auch klingen mag, eine entsprechende Entwicklung war absehbar. Verschwörungserzähler scheinen sich in den vergangenen Jahren stetig radikalisiert zu haben, die Corona-Pandemie rückte ihre Agenden schlussendlich in den Fokus der Öffentlichkeit.

Zudem sei ein neuer Mechanismus hinzugekommen, sagt Schiesser. Nämlich jener, die Anhänger stets bei Laune halten zu müssen, damit sie von Tag zu Tag immer wieder aufs Neue einsteigen und apokalyptische Nachrichten lesen: "Ich habe den Eindruck, dass da versucht wird, immer nochmal etwas nachzulegen, um die Anhänger bei der Stange zu halten. Das waren einerseits Ankündigungen von irgendwelchen Umstürzen oder Regierungsveränderungen, Donald Trump als die Erlöserfigur oder das Militär, das uns befreien soll", erklärt sie. Denn die prophezeite Katastrophe ist bis heute nicht eingetreten.

Geimpfte lösen bei Nichtgeimpften Herpes aus? Nein.
Foto: Screenshot/Telegram

Was bedeuten die Öffnungen?

Während es bisher zu einer Radikalisierung der geteilten Verschwörungsmythen gekommen ist, dürfte aber gerade dieses Ausbleiben der Katastrophe in den kommenden Monaten zu einer Verbesserung der Lage führen: "Ich glaube, dass in Zukunft für einige der Punkt kommen wird, an dem es ihnen reicht", sagt die Expertin. "Es wird seit einem Jahr der Weltuntergang verkündet, aber es ist nicht ersichtlich, dass er eintritt." Es dürfte also nur mehr eine Frage der Zeit sein, bis aktive Zweifel aufkommen oder sich der Fokus verschiebt. Auch deshalb, weil die Öffnungen stetig fortschreiten. Die meisten von uns dürften im Laufe der vergangenen Lockdowns überdurchschnittlich viel Zeit zu Hause verbracht und dementsprechend längere Bildschirmzeiten gehabt haben.

Es sei deshalb gar nicht so selten passiert, dass User in ein fast suchtartiges Konsumverhalten gefallen seien. Doch je weniger Zeit für das Studieren von Telegram-Nachrichten bestehe, desto weniger intensiv könne man folglich auch in die geteilten Verschwörungsmythen hineinkippen.

Ein erstes Anzeichen hierfür liefert die Betrachtung der Reichweite bekannter Corona-Leugner wie Michael Wendler und Xavier Naidoo. Während sie längere Zeit eine beliebte Anlaufstelle waren, verlieren sie seit einigen Wochen konstant an Abonnenten, Views und Reichweite. Ähnliches lässt sich auch einer bekannten süddeutschen "Querdenker"-Gruppe attestieren. Dem Telegram-Kanal des ehemaligen Vegankochs und rechtsradikalen Szene-Stars Atilla Hildmann wurde unterdessen gänzlich der Garaus gemacht.

Hilfe in der Not

Doch was tun, wenn ein Angehöriger trotz allem in den Hasenbau der Corona-Verschwörungserzählungen fällt? "Zum einen abchecken, ob derjenige gerade erst damit anfängt, sich mit den Themen auseinanderzusetzen, oder ob er schon zu 100 Prozent davon überzeugt ist", rät Schiesser. Solange man noch den Eindruck hat, eine Person mit Fakten erreichen zu können, müsse man schnell sein, zusammen nach vertrauenswürdigen Informationen suchen und über Quellen sprechen.

Die Mär von durch Geimpfte ausgestoßenen Spike-Proteinen beruht nicht auf Fakten.
Foto: Screenshot/Telegram

"Bemerke ich hingegen, dass ich mit Informationen nicht mehr weiterkomme, sollte nicht mehr über Inhalte diskutiert werden", rät sie. Damit verstärke man die Bindung an die Mythen nur noch mehr. Zwar solle man dann weiterhin über Quellen sprechen, grundsätzlich aber primär hinsehen, was eigentlich die Motive des Gegenübers sind. "Ist das zum Beispiel jemand, der sehr kritisch ist und sich nichts vorschreiben lassen will? Oder hat er eine schlechte Erfahrung mit einem Medikament oder einer Impfung gemacht? Das habe ich auch schon gehört." Auf dieser Ebene könne man auch dann noch miteinander reden, wenn man Verständnis für die Ängste aufbringe und auch vom eigenen Umgang mit der Situation erzähle.

Man müsse also auf die Metaebene wechseln und darüber sprechen, warum man die Welt gerade auf diese bestimmte Art wahrnimmt. Selbst wenn man einen einst engen Freund dadurch nicht sofort aus den Fängen der Corona-Leugner befreien kann – das Schwarz-Weiß-Denken dürfte aufgelockert werden. Und das ist zumindest ein Anfang. (Mickey Manakas, Tiana Hsu, 18.7.2021)