Im Gastkommentar spricht sich der Leiter des Instituts für Wirtschafts- und Standortentwicklung der WKO Steiermark, Ewald Verhounig, für arbeitsmarktpolitische Kurskorrekturen aus.

Das Pflegesystem wäre ohne qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland nicht aufrechtzuerhalten.
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Bis 2030 kommt allein der Steiermark das Arbeitsmarktpotenzial einer Stadt in der Größe Leobens abhanden. Dass uns die Demografie diesen eklatanten Rückgang an Erwerbstätigen beschert, ist aus Expertensicht dramatisch. Denn dieser Wandel schwingt sich aktuell zum eigentlichen Flaschenhals der konjunkturellen Wiederauferstehung hoch.

Die gegenwärtige öffentliche Debatte über die Grenzen der Zumutbarkeit für Arbeitslose ist da wenig hilfreich, denn diese lenkt nur von der unbequemen arbeitsmarktpolitischen Wahrheit ab, die da lautet: Trotz Rekordarbeitslosigkeit passen das Angebot an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und die zu besetzenden Stellen nicht zusammen.

Die entsprechende Power an Fachkräften ist aber Grundvoraussetzung für die globale Wettbewerbsfähigkeit des Standorts. Daher muss sichergestellt werden, dass dieses Personal vorhanden ist – oder vorhanden bleibt.

Pensionsanreize abbauen

Das heißt: Auch wenn es schmerzt, führt kein Weg daran vorbei, das tatsächliche Regelpensionsalter in Österreich endlich gesellschaftsfähig zu machen. Selbst die OECD empfiehlt unserem Staat umgehende Anpassungen des Pensionssystems – und die Berücksichtigung der demografischen Entwicklung.

Die (zweite) unbequeme Wahrheit in diesem Zusammenhang lautet daher: Pensionsanreize, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dazu bringen, früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, müssen abgebaut werden. Die Anzahl der Frühpensionierungen – zuletzt verzeichnete Österreich wieder ein sattes Wachstum – muss nicht nur gebremst, sondern drastisch reduziert werden.

Qualifizierte Zuwanderung

Während die locker sitzende Pensionsschraube endlich festgedreht werden muss, müssen in der Zuwanderungspolitik Nägel mit Köpfen gemacht werden. Denn – und ja, auch das ist eine unbequeme Wahrheit – ohne qualifizierte Zuwanderung werden wir die Herausforderung des Fachkräftemangels nicht lösen. Schon heute wäre das Pflegesystem nicht ohne qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland aufrechtzuerhalten. Ähnliches wird bald auch für andere Branchen wie dem Handwerk oder dem Baunebengewerbe gelten. Will der Wirtschaftsstandort international konkurrenzfähig bleiben, müssen wir Anreize schaffen, um kompetente ausländische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach Österreich zu lotsen.

Mobilität attraktivieren

Es sei denn, es gelingt, das eingangs erwähnte Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage zu korrigieren. Die aus ökonomischer Perspektive dringend empfehlenswerte Maßnahme scheitert dabei im Übrigen nicht am aktuell öffentlich suggerierten Eindruck, wonach die Grenzen der Zumutbarkeit für Arbeitslose ins Unendliche verschoben werden müssten. Sondern – einmal mehr – an der unbequemen Wahrheit: Das System bietet Arbeitslosen schlichtweg zu wenig Anreize, die Mobilität zu erhöhen, gezielte Qualifikationsmaßnahmen in Mangelberufen anzunehmen – oder überhaupt neue Berufswege einzuschlagen.

Das ist nicht angenehm, erfordert viel politisches Feingefühl, muss sich aber ändern. Denn ohne diese arbeitsmarktpolitischen Kurskorrekturen laufen wir Gefahr, ins internationale Hintertreffen zu geraten. Das ist aus Expertensicht vor allem eines: die Wahrheit. (Ewald Verhounig, 16.7.2021)