Es dauert ein bisschen, bis die Schärpe sitzt. Angela Merkel verheddert sich und muss ein zweites Mal Anlauf nehmen, bis sie sich das aufwendig genähte Stück Stoff umgehängt hat. Nun ist sie offiziell Ehrendoktorin der Johns-Hopkins-Universität, und Ronald Daniels, der Rektor, stellt ihr ein paar Fragen, die er unter den wahrscheinlich viel zahlreicheren Fragen seiner Studenten ausgewählt hat.

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Ehrendoktorin Merkel kämpft mit dem Schal.
Foto: AP/Manuel Balce Ceneta

Zum Beispiel: Was die politische Führung in Amerika und Europa tun müsse, um die liberale Demokratie zu schützen? Demokratie beruhe auf Institutionen, antwortet die Kanzlerin. In Demokratien seien die Menschen ja nicht besser als die Menschen in Diktaturen. Die Institutionen machten den Unterschied, also müssten sie gepflegt und dürften nicht infrage gestellt werden, damit Demokratie funktionieren könne.

Dann spricht sie von den "Diskussionsecken" der sozialen Medien, in denen jeder seine eigene Wahrheit finden und in denen man sich, meist unter Gleichgesinnten, sehr wohlfühlen könne. Doch zur Aufklärung gehöre eben auch, "dass es Wahrheiten gibt und die Emotion einer Wahrheit nicht gleichgesetzt werden kann".

Jobangebot für Merkel

Zuvor hatte der Rektor in seiner Laudatio von einer Politikerin gesprochen, die sich angesichts wachsender nationalistischer und isolationistischer Tendenzen stets für die Menschenrechte, und zwar für alle, eingesetzt habe. Und zum Schluss lädt er sie ein, doch für längere Zeit an seine Uni zu kommen, wenn sie nicht mehr im Amt sei.

Daniels ist Kanadier, an diesem Tag aber spricht er für das liberale Amerika. Er wiederholt die Lobeshymnen, wie sie jene Amerikaner auf die Deutsche anstimmten, die in der Präsidentschaft Donald Trumps einen populistischen, potenziell autokratischen Irrweg sahen: Hoffnungsträgerin der liberalen Demokratie, Verteidigerin der westlichen Allianz, die Standhafte im Kampf gegen nationalistische Engstirnigkeit. An Komplimenten, verbunden mit teils völlig überzogenen Erwartungen, mangelte es nicht. Auch nicht an Pathos.

Eine Ehrendoktorwürde hat sie bereits 2019 in Harvard erhalten, in einem politischen Umfeld, das sich wie Tag und Nacht vom heutigen unterschied. Damals hielt sie eine Rede, die im Grunde eine Brandrede gegen Trump war, auch wenn sie ihn kein einziges Mal erwähnte. Der Schlüsselsatz lautete, dass man Lüge nicht Wahrheit und Wahrheit nicht Lüge nennen dürfe.

Für den Satz wurde sie mit stehenden Ovationen belohnt, gerade weil ihn das Publikum als eine Art Abrechnung mit dem Tatsachenverdreher im Oval Office empfand. So wenig sich US-Bürger, Bewohner eines riesigen, hinreichend mit sich selbst beschäftigten Landes, sonst für Politiker aus dem Ausland interessieren, bei Merkel liegen die Dinge anders. Für die Demokraten ist sie fast schon eine Identifikationsfigur. Sie gilt als die Frau, die Trump die Stirn bot, während die eigene Partei damit beschäftigt war, den Schock der Wahlniederlage des Novembers 2016 zu verdauen.

Auch eine Premiere

Zwei Jahre später, so kann man es sehen, rollt ihr das liberale Amerika den roten Teppich aus. Diesmal nicht in Harvard, sondern in Washington, wo mit Joe Biden ein Mann im Weißen Haus residiert, der seinen Wahlkampf unter dem Motto bestritt, dass man die Seele des Landes vor Trump retten müsse. Der Abschiedsbesuch der Kanzlerin ist zugleich eine Premiere: Denn Präsident Biden empfängt sie als seinen ersten europäischen Gast, noch bevor der Brite Boris Johnson oder der Franzose Emmanuel Macron zum Zug kommen.

Merkel traf sich zum Auftakt ihrer politischen Gespräche zu einem Frühstück mit US-Vizepräsidentin Kamala Harris an deren Amtssitz.
Foto: imago images/ZUMA Wire

Ehe Merkel am Donnerstag am Weißen Haus vorfuhr, fuhr ihre Wagenkolonne auf einen grünen Hügel in Washington, auf das Gelände des Naval Observatory, wo Bidens Stellvertreterin residiert: Kamala Harris, in der Geschichte der USA die erste "Mrs. Vice President", hatte Merkel zum Frühstück eingeladen.

Im Anschluss an die Zeremonie in der Johns-Hopkins-Universität folgte ein Treffen mit Vertretern der amerikanischen Wirtschaft, unter ihnen Mary Barry, die Chefin des Autobauers General Motors, und Albert Bourla, der Vorstandsvorsitzende des Pharmakonzerns Pfizer. Die anschließende Feierstunde fand pandemiebedingt im eher kleinen Kreis an der Uni statt, bis Merkel schließlich vor dem berühmten Kamin im Oval Office neben dem 78 Jahre alten Gastgeber Platz nahm. Ein demonstrativ herzlicher Händedruck Bidens, auch das steht im markanten Kontrast zu Trump, der ihr den Handshake an selber Stelle einmal ebenso demonstrativ verweigerte.

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Merkel und Biden vor dem Kamin.
Foto: AP

Nicht privat zu Besuch

Ob sie Wehmut empfindet? So etwas wie Abschiedsschmerz? Gegenüber Journalisten macht Merkel klar, dass sie nicht gekommen ist, um in Erinnerungen zu schwelgen. Sie spricht von einem Arbeitsbesuch, von einer langen Agenda, die es abzuarbeiten gelte. Unterhändler beider Seiten feilen seit sechs Wochen daran, das leidige Thema Nord Stream 2 abzuräumen, damit es den viel beschworenen Neustart in den bilateralen Beziehungen nicht noch monatelang überschattet.

Gesucht wird ein Kompromiss, mit dem auch Biden leben kann – inklusive deutscher Unterstützung für die Ukraine, das Gas-Transitland, das angesichts der Röhre in der Ostsee um seine Einnahmen bangt. Biden ließ nie einen Zweifel daran, dass er die Gaspipeline, ähnlich wie sein Amtsvorgänger, für einen "schlechten Deal" hält. Es handle sich um nichts anderes als um ein geopolitisches Projekt Russlands, wiederholten hochrangige Mitarbeiter seiner Regierung erst am Dienstag bei einem Presse-Briefing. Dennoch verzichtet er fürs Erste auf Sanktionen gegen die Betreibergesellschaft, die das Projekt womöglich noch auf der Zielgeraden gestoppt hätten. Er tat es, unter anderem, weil er die Deutschen für einen härteren Kurs gegenüber China gewinnen will.

Beobachtern amerikanischer Innenpolitik ist dabei nicht entgangen, wie viel Unmut er sich mit seiner Entscheidung im Kongress einhandelte, nicht zuletzt in den eigenen Reihen. Bei den Demokraten, die in der Pipeline ein kaum zu rechtfertigendes Geschenk an Wladimir Putin sehen, der auf der Liste ihrer Lieblingsfeinde weit oben steht. Um den Streitfall zu lösen, sollte bis zu Merkels Besuch eigentlich ein unterschriftsreifes Abkommen vorliegen. Dass daraus nichts wird, zeigt nur, wie knifflig die Sache im Detail ist. (Frank Herrmann aus Washington, 15.7.2021)