Sturzfluten auf einer Straße in Hagen in Nordrhein-Westfalen.

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Schuld / Bad Neuenahr – Die Zahl der Toten nach der Unwetterkatastrophe im Westen Deutschlands ist auf mehr als 100 angewachsen. In Rheinland-Pfalz stieg die Opferzahl auf mindestens 60, wie Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) in Mainz sagte. In Nordrhein-Westfalen war die dortige Totenzahl von der Landesregierung zuvor mit 43 angegeben worden. Im ebenfalls stark betroffenen Belgien stieg die Zahl der Toten auf mindestens 23, mehr als 100 Feuerwehrleute aus Österreich sind dort im Einsatz. Das Verteidigungsministerium hat aufgrund des Hochwassers einen militärischen Katastrophenalarm ausgelöst.

Zahlreiche Menschen werden immer noch vermisst. Aus Sicht der Polizei würden in Rheinland-Pfalz knapp unter 100 Menschen vermisst, sagte der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD) am Freitag im Deutschlandfunk. Der Kreis Ahrweiler hatte zuvor von 1.300 Vermissten innerhalb seines Gebiets gesprochen. Eine Sprecherin erklärte das auch mit dem teilweise lahmgelegten Mobilfunknetz. Daher gebe es keinen Handy-Empfang – viele Menschen seien nicht erreichbar.

Die Bundeswehr hat zur Unterstützung bei der Suche nach Vermissten inzwischen rund 900 Soldaten in die Katastrophengebiete in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz geschickt. Im heftig betroffenen Kreis Euskirchen in NRW soll ein Gutachter am Freitag erneut die Steinbachtalsperre unter die Lupe nehmen. Der Wasserstand war am Donnerstagabend durch Abpumpen zwar gesunken. Die Brauchwasser-Talsperre, deren Damm tiefe Furchen aufweist, war von einem Sachverständigen am Vortag jedoch als "sehr instabil" eingestuft worden. Deswegen wurden aus Sicherheitsgründen mehrere Ortschaften evakuiert. Betroffen waren rund 4.500 Menschen.

Bewohnerinnen und Bewohner der betroffenen Gebiete wurden von den Wassermassen überrascht und sind fassungslos.
DER STANDARD

Es handelt sich um eine der größten Unwetterkatastrophen der Nachkriegszeit in Deutschland. Obwohl die Rettungsmaßnahmen noch voll im Gange sind, liegt die Zahl der Toten bereits deutlich mehr als doppelt so hoch wie beim sogenannten Jahrhunderthochwasser des Jahres 2002, bei dem in Deutschland 21 Menschen starben. Aufgrund der Katastrophe sollen die Flaggen an öffentlichen Gebäuden in Rheinland-Pfalz am Freitag auf Halbmast hängen.

Zahlreiche Menschen sitzen fest

In mehreren vom Hochwasser betroffenen Orten sitzen nach wie vor Menschen in ihren Häusern fest. So seien im nordrhein-westfälischen Erftstadt, wo zahlreiche Häuser teilweise oder vollständig eingestürzt sind, 15 Personen in dem gefährdeten Bereich noch in ihren Häusern eingeschlossen, sagte ein Sprecher des Rhein-Erft-Kreises. Dort seien 55 Menschen aus von den Fluten betroffenen Häusern gerettet worden. In einem Ortsteil Erftstadts waren mehrere Häuser im Hochwasser eingestürzt. Über Todesfälle ist bisher nichts bekannt.

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) begann mit der Anfertigung von Satellitenbildern der Überschwemmungsgebiete. Die Aufnahmen sollen den Behörden bei der Katastrophenbekämpfung helfen. "Auf Anfrage der Länder Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen hat das BBK den Copernicus-Dienst für Katastrophen- und Krisenmanagement ausgelöst", sagte Vizepräsident Thomas Herzog dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Copernicus ist das europäische Erdbeobachtungsprogramm.

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Dreyer will sich am Freitag in Trier über die Situation in ihrer Heimatstadt informieren. Wegen des starken Hochwassers im Mosel-Nebenfluss Kyll waren in Trier und Umgebung am Donnerstag tausende Menschen in Sicherheit gebracht worden, auch ein Krankenhaus musste evakuiert werden.

In Schuld bei Adenau waren den Angaben zufolge in der Nacht zum Donnerstag sechs Häuser eingestürzt.
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Immense Schäden

Die Schäden durch die Wassermassen sind immens. Das Land Rheinland-Pfalz stellte als kurzfristige Unterstützung 50 Millionen Euro bereit, um etwa Schäden an Straßen, Brücken und anderen Bauwerken zu beheben. Auch die Bundesregierung plant Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) zufolge ein Hilfsprogramm. Kanzlerin Merkel versicherte bei ihrem Besuch in den USA mit Blick auf die Betroffenen: "Wir werden sie in dieser schwierigen, schrecklichen Stunde nicht alleinlassen und werden auch helfen, wenn es um den Wiederaufbau geht."

Überschwemmungen in Erfstadt.
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Grünen-Chef Robert Habeck sprach sich für die Auflage eines Hilfsfonds aus. "Ich fände es richtig, wenn wir jetzt sehr schnell einen Hilfsfonds auflegen, wie es 2013 auch nach dem großen Elbhochwasser der Fall war", sagte er der "Welt". "Wir müssen den Menschen in einer solchen Notsituation schnell und unbürokratisch unter die Arme greifen, und ein Teil des Geldes dafür muss aus dem Bundeshaushalt kommen." SPD-Chef Norbert Walter-Borjans sagte der Deutschen Presse-Agentur, die Menschen, die um ihre finanzielle Existenz fürchteten, bräuchten schnell Klarheit. Aufräumarbeiten und Wiederaufbau gelängen nur mit großer Solidarität.

Die Ruhr hatte den höchsten Pegelstand, der jemals gemessen wurde.
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In Nordrhein-Westfalen lief am Donnerstagabend kurz vor Mitternacht die Rurtalsperre über, "mit einer geringen Dynamik", wie der Wasserverband Eifel-Rur (WVER) mitteilte. Dadurch sei im Unterlauf der Rur mit Überschwemmungen sowie Überflutungen von Häusern und Kellern zu rechnen. Der Wasserverband warnte, Menschen sollten sich nicht in Flussnähe aufhalten, da die Gefahr bestehe, mitgerissen zu werden. Auch sollten vollgelaufene Keller nicht betreten werden, weil die Gefahr von Stromschlägen bestehe. An besonders von Hochwasser betroffenen Stellen sei auch mit Evakuierungen zu rechnen.

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Ein Einsatzfahrzeug der Bundeswehr räumt Geröll von der Straße.
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Auch andere Länder betroffen

Ebenfalls mit Hochwasser zu kämpfen haben Nachbarländer Deutschlands. Im Süden der Niederlande haben tausende Menschen ihre Häuser verlassen und sich in Sicherheit gebracht. Unter anderem ist die Stadt Venlo mit rund 100.000 Einwohnern von Überschwemmungen betroffen. Am Abend sollte ein Großteil der Stadt evakuiert werden, teilte die Verwaltung mit. Zuvor hatten Familien in der Stadt Meerssen und deren Umgebung wegen eines Deichbruchs ihre Häuser verlassen müssen. Notfalldienste warnten, die Wassermassen drohten mehrere Dörfer zu überschwemmen.

In der Schweiz stiegen Flusspegel stark an. Im Kanton Schaffhausen überschwemmten laut der Nachrichtenagentur Keystone-sda angeschwollene Bäche die Dörfer Schleitheim und Beggingen. Wassermassen flossen durch Straßen, in Keller, rissen Fahrzeuge mit und zerstörten kleinere Brücken. In der südniederländischen Stadt Maastricht mussten 10.000 Bürgerinnen und Bürger am Donnerstagabend ihre Wohnungen verlassen, um sich vor dem Hochwasser in Sicherheit zu bringen.

In Belgien steigt die Zahl der Toten weiter. Wie die Nachrichtenagentur Belga am Freitag unter Berufung auf den Gouverneur der Provinz Lüttich berichtet, kamen in Wallonien mindestens 23 Menschen ums Leben. Es gebe immer noch Menschen, die seit 36 Stunden ohne Essen und Trinken auf Dächern ausharren. Informationen des öffentlich rechtlichen Sender RTBF zufolge wurden in der Provinz Lüttich zudem am Mittag noch 13 Menschen vermisst.

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Pepinster (Belgien).
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Indes wurden entlang der Maas vorbeugend Menschen aus einigen Gemeinden in Sicherheit gebracht, wie Belga meldete. Die Weser hat die Stadt Pepinster überflutet. Zehn Häuser stürzten ein. Die belgische Innenministerin Annelies Verlinden hatte bereits am Donnerstag den Katastrophenschutzmechanismus der EU in Anspruch genommen, Frankreich, Italien und Österreich hatten Hilfe angeboten.

Hilfe aus Österreich

Rund 120 Mitglieder der niederösterreichischen Feuerwehren sind noch am Donnerstagabend mit 16 Fahrzeugen und 26 Booten ins belgische Katastrophengebiet aufgebrochen. Die Dauer des Einsatzes ist noch unklar, aber vorerst plant das niederösterreichische Landesfeuerwehrkommando, dass die Kräfte drei bis fünf Tage vor Ort sein werden.

Die Österreicher sind dabei in Theux, einer 12.000 Einwohner zählenden Stadt in der belgischen Provinz Lüttich, im Einsatz. Was sich ihnen dort offenbarte, waren nach Angaben des Landesverbands "deprimierende Szenarien", verwüstete Wohnhäuser und in den Fluten versunkene Autos. Das den Ortskern durchziehende Flüsschen namens Hoegne hatte sich dort zu einer reißenden Gewalt entwickelt und nach Feuerwehrangaben einen Rekordpegel erreicht. Das Wasser stand in der Stadt bis zu zweieinhalb Meter hoch. "Die Strömungsgeschwindigkeit war so enorm, dass Autos wie Zündholzschachteln wegschwemmt und ein Großteil aller Gebäude massiv beschädigt wurden", berichtete Franz Resperger vom Landeskommando.

Lüttich (Belgien).
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Die Helfer aus Österreich sind damit beschäftigt, mögliche verschüttete Opfer zu finden und zu befreien. Die zerstörte Infrastruktur erschwert die Arbeit. "Der Strom ist durch gebrochene Masten teilweise ausgefallen, in Straßen und auf Gehsteigen klaffen riesige Löcher im Asphalt", hieß es. Die örtliche Bevölkerung habe sich für die rasche ausländische Hilfe bedankt: "Viele Menschen sind den Einsatzkräften um den Hals gefallen."

Lage in Österreich

Auch in Vorarlberg haben in der Nacht auf Freitag starke Regenfälle mehr als 50 Feuerwehreinsätze notwendig gemacht. Hauptsächlich galt es unter Wasser stehende Keller auszupumpen, hieß es auf APA-Anfrage bei der Rettungs- und Feuerwehrleitstelle. Ebenso kam es zu einzelnen Behinderungen im Verkehr. Fast ausschließlich betroffen war der vordere Bregenzerwald, wo innerhalb von 24 Stunden 80 oder mehr Liter Regen pro Quadratmeter fielen. Verletzt wurde niemand.

Der Katastrophenschutz des Landes Salzburg hat am Freitag indes vor einer Starkregenfront am Wochenende gewarnt. Diese könnte für Überflutungen und Muren sorgen. Die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) prognostiziere für das Wochenende intensive und lang anhaltende Regenfälle. Das bedeute Warnstufe "Orange" und punktuell bis zu 120 Millimeter Niederschlag in der Nordstaulage im Pinzgau, Tennengau und Flachgau. In den restlichen Regionen Salzburgs wird mit 40 bis 80 Millimeter Regen gerechnet, was Warnstufe "Gelb" bedeutet. Nur der Lungau scheint aus heutiger Sicht von großen Regenmengen verschont zu bleiben. Es wird befürchtet, dass die starken Regenfälle von Samstagmittag bis Sonntagmittag andauern. Auch für Oberösterreich sagte die ZAMG "starken und anhaltenden Regen mit hohen Niederschlagsmengen" vor allem im Süden des Landes voraus. (APA, red, Reuters, 16.7.2021)