"Seuchenzeiten sind verrückte Zeiten, in denen sich Menschen nicht anders zu helfen wissen als mit der Flucht in den sozialen Wahn", meinte Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes bei der jährlichen Tagung des Sir-Peter-Ustinov-Instituts unter dem Titel "Kontinuität und Aktualität des Antisemitismus". Die Corona-Pandemie, die wir die letzten eineinhalb Jahre durchleben mussten, und die damit verbundene gesundheitliche, soziale und gesamtgesellschaftliche Dauerkrise, die zu Recht eine Vielzahl an Ängsten und Verwirrungen beförderte, ist zweifelsohne die Seuchenzeit des 21. Jahrhunderts, der wir immer noch gegenüberstehen.

Um diese multiplen Krisen, das fast Unerklärliche zu erklären, bedient man sich in solchen Zeiten gerne Verschwörungsmythen, die ein pseudo-rationales Welterklärungsraster anbieten, Schuldige identifizieren und ein Stück weit Sicherheit vermitteln möchten. Vermeintlich Schuldige wurden auch in der Corona-Pandemie viele gefunden. Oft war die Rede vom "China-Virus", vom Einsatz des Virus als biologische Waffe oder von geheimen satanischen Eliten, die hinter der Misere vermutet werden. Viele dieser Verschwörungsmythen greifen, zumal ganz offensichtlich mal versteckt, auf antisemitische Rhetorik und Bildersprache zurück. Die Demonstrationen von Corona-Leugnern, die uns in den letzten Wochen und Monaten begegneten, haben dies mit ihren bizarren Verschwörungsmythen und der die Shoah offen relativierenden Bildersprache verdeutlicht. Da verwundert es nicht, dass seit Monaten die Israelitische Kultusgemeinde eine deutliche Zunahme an Meldungen antisemitischer Vorfälle, speziell auch in Zusammenhang mit Corona, meldet.

Dabei drängt sich die Frage nach der hartnäckigen Kontinuität des Antisemitismus auf. Ist ein Nie-wieder-Vergessen, ein Nie-wieder-Zulassen heute zu einem Nie-wieder-daran-Erinnern, zu einem Nie-wieder-daran-Denken verkommen?

Zwischen Pest und Corona

Dass Juden und Jüdinnen für den Ausbruch von Krankheiten und Seuchen verantwortlich gemacht werden, ist nichts Neues. Bereits in der Antike galten Juden und Jüdinnen als Überträger von Krankheiten, jedoch mit den Fähigkeiten, sich vor diesen zu schützen. 1348/49 gipfelte diese Wahnvorstellung in den blutigen Pestpogromen, die Andreas Peham als "diabolische Explosion" bezeichnete. Im Zuge dieser Pestpogrome blieb die jüdische Gemeinde in Wien und Umgebung weitgehend unberührt, bis sie 1421, also vor genau 600 Jahren, unter dem konstruierten Vorwand der Hostienschändung aus dem Herzogtum Österreich vertrieben beziehungsweise ermordet wurde. 1881 war es schließlich Eugen Dühring, der in "Zur Judenfrage" meinte, Juden würden vom "Impfzwang" profitieren, um "aus allen Canälen der Menschheit Geld herauszusaugen". Mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber Schutzimpfungen stieß Dühring in eine zu seiner Zeit heiß geführte Debatte.

Denn mit dem Reichsimpfgesetz von 1874 wurde in Deutschland im Zuge der tödlichen Pockenepidemie eine Impfpflicht für Kinder eingeführt. Die Pockenimpfung, in England bereits seit 1796, geht auf eine Entdeckung des englischen Arztes Edward Jenner zurück, der erkannte, dass sich Personen, die sich mit den für den Menschen wenig gefährlichen Kuhpocken, einem Bläschenausschlag am Euter der Kühe, infiziert hatten, nicht an Pocken erkrankten. Den Vorgang der Impfung nannte er Vakzination, vom lateinischen Wort für Kuh, "vacca". Die Impfung rettete unzähligen Menschen das Leben, die Bedenken, den Geimpften könnten doch Kuheuter oder Hörner wachsen, waren jedoch groß. Von Pfizer und Co wachsen einem keine Kuheuter, aber Verschwörungstheorien rund um Bill Gates, der von den extremistischen Lagern in der Impfgegnerschaft als Jude bezeichnet wird, sind sich sicher, mit der Impfung könnten doch Chips eingepflanzt werden, um die Menschheit zu kontrollieren.

Die Corona-Demos sind immer wieder Schauplatz für Antisemitismus.
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Antisemitische Codes

Die offene antisemitische Rhetorik und Symbolik der Impfgegnerschaft, die sich auf den Corona-Demos versammelt, schließt nahtlos an diese antisemitische Tradition an. Diese Kontinuität des Antisemitismus, die weit über die Demonstrationsteilnehmenden hinausreicht, begegnet uns zumal ganz offen und augenscheinlich. So stimmen laut der in diesem Jahr erschienen Antisemitismusstudie, die im Auftrag der Parlamentsdirektion 2020 erstellt wurde, drei Prozent der Aussage zu "Juden haben das Coronavirus erschaffen, um die Wirtschaft lahmzulegen und finanziellen Profit daraus zu ziehen".

Öfters jedoch begegnen uns diese antisemitischen Verschwörungsmythen in einer weniger offensichtlichen, codierten und doch so vertrauten Form. So stimmen laut Antisemitismusstudie 28 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher der Aussage zu: "Eine mächtige und einflussreiche Elite (z. B. Soros, Rothschild, Zuckerberg ...) nutzt die Corona-Pandemie, um ihren Reichtum und politischen Einfluss weiter auszubauen". Diese codierte Form ist weit gesellschaftsfähiger, ist der offene Antisemitismus nach 1945 doch tabuisiert. Das eigentlich Erschreckende ist jedoch nicht so sehr der offen zur Schau getragene Antisemitismus von Extremistinnen und Extremisten an den Rändern des politischen Spektrums, die auch die Corona-Demos für sich instrumentalisierten. Das eigentlich Erschreckende ist einerseits das unhinterfragte Annehmen codierter antisemitischer Stereotype und andererseits das Stummbleiben und damit die stille Zustimmung aus der Mitte unserer Gesellschaft, die weit über die Demonstrationsteilnehmenden hinausgeht, wie Doron Rabinovici bei der Konferenz treffend anmerkte. Denn wer schweigt, der stimmt auch zu.

Zur Hartnäckigkeit antisemitischer Stereotype

Ob Rothschild oder Soros, ob Kuheuter oder Chip, das Bild einer dunklen Elite, die sich gegen die Menschheit verschworen hat, ist ein seit Jahrhunderten erprobtes. Diese Kontinuität des Antisemitismus reicht von der Antike über das Mittelalter mit seinem religiös-ökonomisch motivierten Antijudaismus und gipfelte im 19. Jahrhundert in eine umfassende antimoderne Weltanschauung. Dabei hat sich der Antisemitismus im Laufe der Zeit an neue Gegebenheiten angepasst, und die altbekannten Verschwörungsmythen haben sich in neue Gewänder gekleidet. Ähnlich wie Zwiebelschichten überlagerten die neuen Schichten antisemitischen Grauens die alten, ohne dass diese jemals aufhörten zu existieren.

Speziell in krisenhaften Zeiten scheinen diese alten Mythen zu "neuem" Leben erweckt zu werden. So war der moderne Antisemitismus ab dem 19. Jahrhundert ein Resultat der Schattenseiten der Moderne selbst und ihren nicht ertragenen Ambivalenzen, wie etwa der deutsche Sozialwissenschafter Samuel Salzborn argumentiert. Im modernen Antisemitismus wurden "die Juden" zum "negativen Symbol der Moderne" schlechthin. Ähnliches kann heute für die Globalisierung und die damit verbundenen sozialen, ökonomischen und ökologischen Verwirrungen behauptet werden. "Die Pandemie ist ja die Seuche unserer Zeit, also der Globalisierung", so der Schriftsteller Doron Rabinovici. "Es geht gegen die Globalisierung, gegen die Globalisten, und hinter denen wird eine dunkle Macht vermutet, eine Verschwörung."

Dabei ist es die angesprochene umfassende Weltanschauung, die der moderne Antisemitismus bietet, dieses ideologische System, welches ihn so gefährlich und hartnäckig macht und darüber hinaus von anderen xenophoben Strömungen unterscheidet. Über reine Sündenbockstrategien hinausgehend, identifiziert der moderne Antisemitismus "den Juden" als immanente Gefahr für gesamte Zivilisationen, Kulturen, ja sogar für die Menschheit selbst und nicht für eine Gruppe, eine bestimmte Gesellschaft oder eine Nation. Dabei konnte und kann das antisemitische Bild "des Juden" ein durchaus widersprüchliches sein. So konnte "der Jude" Bolschewik und Kapitalist gleichzeitig sein und so kann Soros aus einem humanistischen Altruismus heraus Flüchtlinge nach Europa holen, wie es Johann Gudenus mit "stichhaltigen Gerüchten" zu belegen versuchte, und gleichzeitig in egoistisch kapitalistischer Manier davon profitieren.

Gewisse Vertrautheit

Wer sich nun einem nur schwer verstandenen sozialen Wandel oder multiplen Krisen ausgesetzt fühlt, der findet bereits fertige und über den Lauf der Geschichte tradierte Erklärungen im ideologischen Wissensbestand des Antisemitismus, wie es der Soziologe Werner Bergmann argumentierte. In unser kollektives Gedächtnis eingeschrieben, erzeugen sie unbewusst eine gewisse Vertrautheit. In den verrückten Zeiten der Krise hält man sich eben gerne an dem Gewohnten fest, dem ideologischen Wissensbestand, und vergisst gleichzeitig, wozu er geführt hat und abermals führen kann. Dabei muss der Kampf gegen den Antisemitismus und in Folge gegen jegliche xenophoben Strömungen mit einer beherzten Selbstreflexion beginnen und darf sich nicht damit begnügen, Schuldige bei den "Anderen" zu finden, wie die Diskussion über den sogenannten "importierten Antisemitismus" vermuten lässt. Das mag unbequem und schmerzhaft sein, doch ist es Voraussetzung für eine liberale Gesellschaft. (Constantin Lager, 22.7.2021)