Wohnblöcke, Plattenbauten, austauschbare Hochhäuser bis zum Horizont. Und nicht selten sind auf seinen Fotos noch Rohbauten und dutzende Baukräne zu sehen, die sich im Kreis drehen und Fenster und Betonfertigteile in den zehnten oder 20. Stock hinaufziehen. Doch eine Gemeinsamkeit haben sie alle, die rund 30 dezentralen Stadtlagen in der Türkei, die der deutsche Architekturfotograf Norman Behrendt in den letzten Jahren mit seiner Linse eingefangen hat: Irgendwo dazwischen findet sich immer eine Moschee mit unzähligen Kuppeln und Minaretten, anachronistisch in Gold, Silber und Kupfer schimmernd, und man kennt sich nicht aus: Was ist alt, und was ist neu?

Passend zu Corona-Zeiten

"Der Zuzug der ländlichen Bevölkerung in die Städte ist enorm, und so wird an den Stadträndern im Eiltempo gebaut, um Wohnraum für Tausende von Menschen zu schaffen", sagt Behrendt, der regelmäßig in der Türkei ist und 2015 seine Fotoserie Brave New Turkey gestartet hat. "Der Bau von Moscheen ist Teil dieser Stadtentwicklung, dabei gibt es zwischen der modernen, zeitgenössischen Architektursprache der Wohnblöcke und der historistischen Anmutung der Gebetshäuser einen stilistischen Clash, der mitunter sehr befremdlich wirkt und mich darüber nachdenklich stimmt, welchen Stellenwert die Religion in der derzeit konservativ regierten Türkei einnimmt. Viele Aleviten, mit denen ich gesprochen habe, halten diese Entwicklung für fragwürdig und beängstigend."

Wo sieht man das Urbane im Peripheren? Mit dieser Frage beschäftigten sich rund 90 Fotografen aus aller Welt. Yaşamkent-Nur-Moschee in Ankara, Teil der Serie "Brave New Turkey" von Norman Behrendt (Auszeichnung).
Foto: Norman Behrendt

So wie am Beispiel der Yaşamkent-Nur-Moschee in Ankara. Die gezeigte Aufnahme mit der gülden glitzernden Dachlandschaft stammt aus dem Jahr 2017 und findet sich unter jenen Preisträgern und Auszeichnungen, die gestern, Freitag, im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main mit dem Europäischen Architekturfotografie-Preis ausgezeichnet wurden. Die Ausschreibung stand heuer unter dem Motto "Das Urbane im Peripheren" und widmete sich jenen Tendenzen und Entwicklungen, in denen die uns bekannten Stadt- und Landbilder mal sanft, mal heftig, mal poetisch irritierend aufeinanderprallen.

"Wir haben den Preis vor Beginn der Pandemie ausgeschrieben, aber es ist fast unheimlich zu sehen, wie passend die Thematik auch in Zeiten von Corona erscheint, wenn man bedenkt, wie viele Menschen plötzlich auf das Land geflüchtet sind und wie menschenleer und gespenstisch dörflich die Stadt an manchen Tagen gewirkt hat", sagt Christina Gräwe, Vorsitzende des Vereins Architekturbild e.V. mit Sitz in Berlin und Heidelberg. "Ja, die urbanen Spuren im ländlichen Raum sind unübersehbar."

Slumviertel Dharavi in Mumbai, Teil der Serie "Peripherie für die
Armen" von Torsten Andreas Hoffmann.
Foto: Torsten Andreas Hoffmann

So auch bei Torsten Andreas Hoffmann. Der deutsche Fotograf reist regelmäßig nach Indien und erforscht mit seinen beiden Kameras, Canon 5DS R und Leica CL, die rasant wachsende Metropole Mumbai. "Es gibt wenige Städte, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Upperclass und Abgrund so groß und so tief ist wie in Mumbai. Aufgrund ihrer begrenzten Lage auf einer Halbinsel treffen die unterschiedlichen Facetten dieser Stadt hier besonders chaotisch aufeinander."

Soziale Reibung

Mit seiner Serie Peripherie für die Armen hielt er das weltberühmte Slumviertel Dharavi fest, in dem laut Schätzungen rund 600.000 Menschen leben sollen. "Früher lag Dharavi am Stadtrand, und man fuhr auf dem Weg zum Flughafen daran vorbei", sagt Hoffmann. "Heute aber hat sich die Stadt so weit in den Norden ausgedehnt, dass Dharavi geografisch gesehen in der Mitte der Stadt liegt. Die wichtigsten Verkehrswege führen mittendurch, die Reibung ist spürbar."

Um genau diese soziale Reibung darzustellen, und zwar in einem Viertel, in dem die Menschen vor allem als Masse wahrgenommen werden und kaum ein individuelles Gesicht haben, fotografiert Hoffmann mit speziellen Neutraldichtefiltern, was – auch untertags – zu Bewegungsunschärfen und Belichtungszeiten von fünf bis zehn Sekunden führt.

Nächtliches Siegerfoto aus dem Umland von Nürnberg, aufgenommen von Oliver Heinl.
Foto: Oliver Heinl

Mit ungewöhnlich langen Belichtungszeiten arbeitet auch Oliver Heinl. Seine Fotos, die er mit bis zu 15 Sekunden lang geöffneter Blende einfängt, wurden gestern mit dem ersten Preis ausgezeichnet. "Die Stadt wird nie unsichtbar, auch nicht hier draußen im Umland von Nürnberg", sagt der 55-Jährige. Sein Motiv: kein Gewitter, keine Polarlichter, sondern einzig und allein die nächtliche Lichtverschmutzung, die in der urbanen Peripherie die Nacht zum Tag macht. Damit gewinnt der menschliche Eingriff an der Schnittstelle Stadt und Land an sozialpolitischer und ökologischer Brisanz. Stadt ist immer und überall, auch wenn es nur ein optisches Echo am Himmel ist. (Wojciech Czaja, 18.07.2021)