Sergej Lebedew ist ein Spurensucher. Der russische Schriftsteller, 1981 geboren, ist studierter Geologe, der in Mineralien und Erdschichten die Zeichen einer vergessenen Vergangenheit aufspürt. Auch in seinem literarischen Werk steigt er hinab in die nicht selten verborgene und weggesperrte Geschichte seiner Familie und seines Landes, um das aufzuspüren, was Leben formt und prägt, was mitunter kollektive Traumata, Paranoia und Psychosen hervorruft und was sich wie ein Gift in der Gesellschaft über Generationen verbreitet und so Unheil beschwört.

In seinem Debüt Der Himmel auf ihren Schultern (2010) beschäftigte sich Lebedew mit der Geschichte seines Großvaters, der einem Gulag als Kommandant vorgestanden hatte. Mit Menschen im August (2016) stieg er tief hinab in die Verstörungsgeschichte der sowjetisch-russischen Psyche. In Kronos’ Kinder (2018) folgte er den deutschen Wurzeln in seiner Familie und damit der deutsch-sowjetischen Geschichte.

Literatur als Akt der Auflehnung: Sergej Lebedew.

So betreibt Lebedew seine eigene Vergangenheitsbewältigung, was in einem Land, das vieles tut, um die eigenen Leichen im Keller unter Propagandaschutt zu erdrücken und die Geister mit Mitteln der Angst und der Gewalt zu bändigen, ein politischer Akt der Auflehnung ist. Was muss Russland tun, um sich selbst und seine Dämonen in den Griff zu bekommen, damit wieder eine Zukunft möglich ist – das ist die zentrale Frage, der Lebedew hinterher spürt.

Sein neuer Roman Das perfekte Gift kann als Essenz dieser Spurensuche verstanden werden. Einer Suche, die im Buch immer wieder durch geisterhafte Hinterlassenschaften vergangener Zeiten angedeutet wird: durch Regale, die ihre Abdrücke an einer Wand hinterlassen haben, durch ein Fresko in der Kuppel einer Kirche, das nur noch halb zu erkennen ist. Im Kern geht es in der teilweise rasant erzählten und (teilweise zu) metaphysisch aufgeladenen Geschichte um die Allmachtsfantasie von totalitären Mächten, die darauf abzielen, alle Spuren, Zeichen und Erinnerungen, die zu störenden und quälenden Fragen der Wahrheitsfindung führen, unkenntlich zu machen. Das System bestimmt selbst, was Gedächtnis ist und was machbar ist.

Manipulation und Lügen

In dem Buch, das sich an der Oberfläche wie ein Spionagethriller entspinnt, wird dieser toxische Wahn durch ein Gift symbolisiert, das schnell tötet und keine Spuren hinterlässt. Gleich zu Beginn der Geschichte, die Lebedew sprachlich so raffiniert ausstaffiert, dass die Lektüre und damit der Abstieg in diese widerwärtige Welt aus Bosheit, Manipulation und Lügen, selbst zu einer durchaus körperlichen Erfahrung wird, beweist das Gift seine tödliche Wirkung.

Eine Wirkung, die auch der Vater der unheilvollen Substanz erfahren muss, als sie das Licht der Welt erblickt: "Eine winzige Menge der Substanz geriet in den Schutzanzug. Wenige Moleküle, könnte man sagen. Doch es war der Debütant, der wahre Debütant. Der Debütant tötete Vera augenblicklich. Es war das Erste, was er tat, als er auf die Welt kam. Er holte sich den Preis für seine Geburt." Kalitin heißt der Erschaffer des "Debütanten", wie er das Gift tauft. Zur Zeit der Sowjetunion hat es der Biologe und Chemiker auf einer geheimen Insel entwickelt. Eine Insel, für die Lebedew die Geschichte zweier real existierender Orte verwebt: und zwar die des Solowezki-Klosters im Weißen Meer, einer bedeutenden Stätte der russischen Orthodoxie, aus der ab 1923 das Gulag-System der Sowjetunion entstand. Dazu die Geschichte von Schichany, der einst verbotenen Stadt in Südrussland. Sie ist eng verwoben mit der Chemiewaffenproduktion der Sowjetunion und des heutigen Russlands.

Es ist auch der Ort, wo mutmaßlich das Nervengift Nowitschok hergestellt wurde, mit dem 2018 der einstige KGB-Offizier Sergej Skripal und auch Alexej Nawalny vergiftet wurden. Aus solchen Orten, an denen sich Geschichte, Politik, Wahnsinn und Schicksal zu einer unheilvollen Allianz verdichten, steigt der düstere Geist, dem Lebedew auf die Schliche kommen will.

Sergej Lebedew, "Das perfekte Gift". Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. € 22,70 / 256 Seiten. S. Fischer, Frankfurt/Main 2021

Kalitin ist nach dem Ende der Sowjetunion geflohen. Nun soll er von einem FSB-Kommando unter der Führung von Oberstleutnant Scherschnjow ausgeschaltet werden. Dieser kaltblütige Vollstrecker ist die zweite Hauptfigur des Romans, der auf einen Showdown zusteuert. Die Geschichten der beiden Gestalten, die unterschiedliche Facetten eines mörderischen Systems in sich tragen, werden ineinander verwoben. Und Lebedew holt weit aus, um seiner Idee die nötige Tiefe und Doppelbödigkeit abzuringen. Stalin-Zeit, Zweiter Weltkrieg, Wissenschaftsgeschichte, schließlich geht es um Gut und Böse, um Glauben und Gott und um die Tarnungen und Täuschungen, mit der sich die Menschen in einem autoritären System durchs Leben schlagen.

Moral und Menschlichkeit werden im Angesicht der Zweckmäßigkeit zur Unkenntlichkeit deformiert; so verteilt sich das Gift bis in die Herzkammern der Gesellschaft. Und was bleibt nach dieser abgründigen Spurensuche? Im Falle Lebedews ist zumindest eines gewiss: Die Literatur selbst ist das mächtige Gegenmittel gegen das schlimmste Gift. (Ingo Petz, 19.7.2021)