Als Lars Gustafsson 2016 kurz vor seinem 80. Geburtstag starb, machte ein Nachruf in der Welt auf einen bezeichnenden Umstand in seinem Werk aufmerksam: die zentrale Bedeutung des Fahrrads, immer wieder in seinen Romanen, aber auch Gedichten eine gefühlte Metapher der besonderen Art. Denn bei Gustafsson wurde das Fahrrad mitunter zum melancholischen Fortbewegungsmittel durch die Landschaften und Risse der Welt – als solches hätte es sich wunderbar auch für den Helden seines letzten Buches geeignet, der unbemerkt durch Raum und Zeit gleitet.

Dr. Weiss’ letzter Auftrag heißt dieser Roman fast wie eine Vorahnung; er blieb ein Fragment, wobei schwerlich zu sagen ist, wo denn der Autor weitergeschrieben hätte und was noch gekommen wäre. Das Unfertige merkt man dieser Prosa gar nicht an, vermutlich weil es eine so rätselhafte Geschichte ist, eine Mischung aus Mythologie und Fantasy, aus Umberto Eco und J. R. R. Tolkien, wenn man so will.

Lars Gustafsson / Agneta Blomqvist, "Doppelleben". Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. € 19,60 / 144 Seiten. Hanser, München 2020

Dr. Weiss, der Ich-Erzähler, geistert wie eine mythologische Figur durch den Roman, bereist seltsame Orte in einem irgendwie abgelegenen Europa, die einmal in der Vergangenheit, einmal in der Zukunft liegen. Sie wirken wie ein Paralleluniversum, in dem eine seltsame Bruderschaft, ein Schamane und ein Zwergenvolk eine Rolle spielen, vor allem aber eine mittelalterliche Eisenkrone, die Dr. Weiss aufspüren soll.

Das klingt ein wenig nach Gralssuche, denn diese Krone ist so etwas wie ein Erlösungsmedium. Sie soll als "Intelligenzverstärker" wirken, wobei man nicht erfährt, ob damit etwa die Welt gerettet werden soll oder ob es nur um Macht und Überlegenheit geht. Es ist nicht die einzige unbeantwortete Frage.

"Wie bin ich hier gelandet?", fragt sich stattdessen Dr. Weiss, und das könnte sich auch der Leser fragen. "Wie wurde ich eigentlich in diese unerträgliche Geschichte hineingezogen?" "Unerträglich" ist aber nur, dass man nicht weiß, worauf die Geschichte hinauswill, und das beschreibt dann, nur eben eingesunken in eine Fabelwelt, unsere eigene ausweglose Existenz, die uns von Anfang an beschäftigt. So wie eben hier im Roman nach dem Vorher und dem Nachher gefragt wird, nach der Wirklichkeit des "prekären" Universums und der "Sache mit der Zeit". Wie soll man das begreifen? Am Ende des Buches – aber ist das überhaupt das Ende? – bringt es Dr. Weiss doch noch auf den Punkt: Wer immer in den Besitz der Krone gelangt, wird mit ihr "eine unüberwindliche Waffe gegen seine Feinde finden", aber einen hohen Preis dafür zahlen müssen: "Die Einsicht in die totale Nichtigkeit der menschlichen Existenz."

Die Welt von damals

Ist das die ganze Erkenntnis? Man kann nur einwenden: Eine bessere gibt es nicht. Spätestens hier denkt man, das hat nichts mit Utopie zu tun, auch wenn es Lars Gustafsson in seinem Werk immer um Grenzerfahrung, die philosophische wie die physikalische, gegangen ist. In einem seiner Gedichte schreibt er einmal von den zwei Hälften der messbaren Welt und dass wir davon nur eine kennen. Das möge bitte nicht metaphysisch verstanden werden, es zeigt nur unsere Grenzen auf.

Noch ein letztes Buch: Doppelleben, das Gustafsson gemeinsam mit seiner dritten Ehefrau Agneta Blomqvist geschrieben hat. Beider Texte sind paarweise zu einem Ganzen angeordnet, das ganz ohne überraschendes Themenspektrum auskommt: Familie, Kinderzimmer, Schule …, alles verpackt in eine bemerkenswert unbekümmerte Erfahrung, die so sorgenfrei beschrieben wird, wie es die Welt der Vierzigerjahre damals, jedenfalls außerhalb Schwedens, nicht war.

Lars Gustafsson, "Dr. Weiss’ letzter Auftrag". Aus dem Schwedischen von Verena Reichel.€ 20,60 / 148 Seiten. Wallstein, Göttingen 2020

Schließlich lag das Kindheitsland der späteren Eheleute – die einander schon als Kinder gekannt haben – an der Grenze zu Krieg und Verwüstung. Aber in ihrem Inneren war diese Welt heil, nicht einmal die eintätowierte KZ-Nummer am Arm einer Hausschneiderin kann die Unbeschwertheit stören, schon gar nicht das Glück erschüttern, das etwa beim Dahinschlittern auf dem Eis so oft erlebt wurde.

Natürlich ist das ein wenig auch Idealisierung einer Idylle, die so fern geworden ist, dass man sie nicht mehr für wirklich halten mag. Etwa, dass man mit dem Picknickkorb ans Meer fuhr und dass es am Strand noch keinen Müll gab. In dieser Sicht ist sich das Autorenpaar einig. Es scheint, als wolle beider Perspektive nur diesen Ausschnitt kennen, nicht verklärend oder beschwörend, einfach gelassen vom damaligen Glück erzählend. Es ist nun einmal der Schutzcharakter von Kindheitserinnerungen, dass sie das weniger Angenehme ausblenden können. So bleiben auch die früheren Lebensumstände nah beieinander, ohne einen sozialen Schatten zu werfen: Agneta ist in einer Villa aufgewachsen, Lars in einfachen Verhältnissen. Und dennoch kein trennendes Milieu, keine Klassenunterschiede wie anderswo in Europa.

Dieses Vorbehaltlose macht auch das Schweden der Literatur so angenehm und nicht zuletzt dieses Buch zur wunderbaren Lektüre. (Gerhard Zeillinger, 18.7.2021)