Ungewöhnlich schweigsam im Umgang mit den Lockerungen, die er selbst propagierte: der britische Premier Boris Johnson.

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Politische Führung, sagt der britische Premierminister des Vereinigten Königreichs, gleiche "der Hefe, welche die Teigmatratze hebt". Das Zitat entstammt einer Rede vom Donnerstag, mit der Boris Johnson sein Ziel der Anhebung ("level up") benachteiligter Regionen des Landes zu erklären versuchte. Geäußert hat sich der konservative Regierungschef dieser Tage auch zum Rassismus gegen englische Fußballspieler ("scheußlich"), zu linksradikalen Kommunalpolitikern der 1980er-Jahre ("verrückt") sowie zur Forderung nach einer Steuer auf Zucker und Salz ("nicht attraktiv"), um der Fettsucht-Epidemie im Land zu begegnen.

Der Kontinent starrt nach London

Von der anderen Krankheitswelle ist in Johnsons Verlautbarungen kaum die Rede. Dabei starren das Land selbst und der Rest Europas gebannt auf kommenden Montag: An diesem Tag sollen im Kampf gegen die hochinfektiöse Delta-Variante des Sars-CoV-2-Virus in England, für dessen Gesundheitspolitik die Zentralregierung zuständig ist, alle staatlichen Beschränkungen fallen. Abschied nehmen heißt es von der Maskenpflicht in Geschäften, Bussen und Bahnen, von der Abstandsregel in Pubs, Restaurants, Theatern und Kinos und von der staatlichen Aufforderung, nach Möglichkeit von zu Hause aus zu arbeiten.

Oder doch nicht ganz? Zu Monatsbeginn besangen Johnson und Gesundheitsressortchef Sajid Javid stets die große Freiheit, kürten den 19. Juli zum "Freiheitstag", nannten die jüngsten Lockerungsschritte "unumkehrbar". Diese Woche herrschte plötzlich ein nüchternerer Ton. So sprach der Premier am Montag von "persönlicher Verantwortung" und dem ersehnten "Ende des Regierungsdiktats". Er mahnte aber auch wortreich zur Besonnenheit: "Vorsicht ist absolut unerlässlich, wir sind alle verantwortlich." Die Pandemie sei nicht vorbei, dem Land stünden "schwierige Tage und Wochen" bevor.

Durchschnittsalter 25 Jahre

Das kann man wohl sagen. Javid selbst wurde am Samstag positiv auf das Coronavirus getestet, und das obwohl er bereits zwei Impfdosen gegen die Krankheit erhalten hat. Seine Symptome seien daher mild, schrieb er auf Twitter und rief die Briten dazu auf, sich impfen zu lassen. In der vergangenen Woche ging allein bis Donnerstag die Zahl der täglich gemeldeten positiven Covidtests um fast ein Drittel (32,6 Prozent) nach oben, lag zuletzt bei 48.553 Neuinfektionen und damit bei einer Inzidenz von 337 pro 100.000 Einwohner. 47 Prozent mehr Patienten als in der Vorwoche mussten wegen einer Covid-Erkrankung ins Spital gebracht werden, die Zahl der Toten lag um 48 Prozent höher als in der Vorwoche, allerdings insgesamt noch immer relativ niedrig: Durchschnittlich wurden 38 Verstorbene pro Tag registriert. Warum sind es nicht mehr? Vor allem unter Kindern und jungen Leuten greift das Virus um sich. Das Durchschnittsalter der Erkrankten lag zuletzt bei 25 Jahren.

Von einer Überlastung der Intensivstationen kann bisher keine Rede sein, die Todesstatistik ist weit entfernt von jenen Jännertagen, als bis zu 1.500 Menschen täglich ihrer Covid-Erkrankung erlagen. Erkennbar hat das überaus erfolgreiche Programm des Nationalen Gesundheitssystems NHS die Verbindung zwischen Ansteckung und tödlichem Verlauf stark geschwächt. Bis einschließlich Mittwoch haben 87,5 Prozent der Erwachsenen auf der Insel eine Dosis Astra Zeneca, Moderna oder Biontech/Pfizer erhalten; 67 Prozent verfügen über die vollständige Immunisierung.

Aufgehobene Gebote bleiben doch bestehen

Dennoch halten viele Wissenschaftsberater der Regierung die jüngsten Zahlen für alarmierend genug, warnen vor der unbeirrten Öffnungspolitik. Mike Tildesley von der Uni Warwick beurteilt das Vorgehen als "verwirrend", vor allem in Bezug auf das Tragen von Mund-Nasen-Schutz. Es wäre "so viel leichter, wenn die Vorschrift in Kraft bleibt", findet Peter Openshaw, Immunologe am Londoner Imperial College.

Bleibt sie auch, jedenfalls vielerorts. Kaum hatte Johnson alle Beschränkungen aufgehoben, meldeten sich regional und lokal Verantwortliche zu Wort. In Wales und Schottland werde die Pflicht zum Tragen einer Maske in Bussen und Bahnen weiter bestehen, teilten die Regierungschefs Mark Drakeford und Nicola Sturgeon mit. Gleiches gilt im Londoner Nahverkehr, vor allem den engen U-Bahn-Tunneln der Neun-Millionen-Einwohner-Metropole. "Ich werde unsere Bürger keinem unnötigen Risiko aussetzen", teilte Londons Bürgermeister, Sadiq Khan, mit.

Der Markt regelt die Maskenpflicht

Den Politikern folgten die Geschäftsleute. Große Supermarktketten wie Tesco, Sainsbury’s und Asda fordern die Kundschaft auf, weiterhin sich selbst und andere mit einer Maske zu schützen. Auch soll die Zahl der Einkaufenden in den Filialen begrenzt bleiben. Die Billigflieger Easyjet und Ryanair pochen auf die Maskenpflicht.

Im Finanzzentrum City of London bleiben die Büroflure von Banken und Versicherungen verwaist. "Mindestens bis September", so lautet die Vorgabe vieler Manager, sollen Banker und Broker nach Möglichkeit im Homeoffice verharren. Auch danach kehren wenige zur Normalität zurück. So rechnet man bei der Großbank Nat West (früher Royal Bank of Scotland) damit, die Zahl der täglich im Großraumbüro Tätigen werde dauerhaft auf weniger als die Hälfte des Stands vor der Pandemie sinken.

Das Land bestimmt

Die sonst so streitlustige Regierung, allen voran deren Vormann, hat die Vielzahl von Vorsichtsbekundungen mit keinem Wort kommentiert. Ob Johnson das Vorgehen von Regionalregierungen und Firmen ganz gut in den Kram passt, während er selbst sich als Freiheitskämpfer präsentieren kann? Manche Beobachter sehen den Konservativen unter starkem Druck der eigenen Fraktion. Weitere gesetzlich vorgeschriebene Einschränkungen seien mit den Unterhausabgeordneten, von denen viele ländliche, von der Pandemie kaum betroffene Wahlkreise vertreten, nicht länger zu machen. Und würde Johnson sich zur Verabschiedung von Covid-Maßnahmen auf die durchaus willige Labour-Opposition stützen, "wäre das sein Ende", glaubt ein erfahrener Tory-Kenner.

Dabei ließe sich immerhin diskutieren über die Frage, inwieweit der Staat auch weiterhin seinen Bürgern den Umgang mit der Pandemie vorschreiben soll. Zu Monatsbeginn beantwortete der neuerdings schweigsame Johnson Kritik am Öffnungsschritt noch mit der Frage: "Wann, wenn nicht jetzt?" Wenn Ende nächster Woche fast im ganzen Land die Sommerferien beginnen, fallen die Schulen als Infektionsherde aus. Weil, siehe oben, große Unternehmen ebenso wie der Beamtenapparat im Regierungsviertel Whitehall bis auf weiteres am weitgehenden Homeoffice festhalten, zudem Sommertouristen weitgehend ausbleiben, sind die öffentlichen Verkehrsmittel selten überfüllt. Zudem begünstigt der Sommer die Verlagerung vieler Treffen ins Freie.

Schwere Folgen der Lockdowns

Gesundheitsminister Javid weist auf den ungeheuren Stau von Facharztterminen hin, die in den vergangenen 18 Monaten der Pandemie zum Opfer fielen. Auch hätten die dauerhaften Einschränkungen "schlimme Auswirkungen" auf die mentale Verfassung vieler Briten gehabt. Der endgültige Abschied vom Corona-Lockdown werde die Bevölkerung "nicht nur freier, sondern auch gesünder" machen. Das Argument wird von vielen Ärzten geteilt, erfährt in den britischen Medien aber wenig Widerhall. In der Öffentlichkeit agieren prominente Ärzte und Wissenschafter eher als Kassandras, oft gespeist aus ihren traumatischen Erfahrungen in Krankenhäusern während der ersten und zweiten Welle.

Diese Fronterfahrung hat auch der gebürtige Wiener Helmut Roniger gemacht. Im Winter unterbrach der erfahrene Internist und Komplementärmediziner seine Arbeit mit schwerkranken chronischen Schmerzpatienten, um auf der Intensivstation des Zentrallondoner Krankenhauses UCLH auszuhelfen. Jetzt aber, glaubt der 59-Jährige, komme die Öffnung zur rechten Zeit.

Nüchtern zählt Roniger auf, was neue Statistiken nahelegen, teilweise auch schon belegen: Die wiederkehrenden Lockdowns zeitigen verheerende gesundheitliche und gesellschaftliche Folgen. Der Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE) zufolge lag die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle im vergangenen Jahr um 20 Prozent höher als 2019. Die Zahl kleinerer, nicht unbedingt lebensnotwendiger Operationen ging um 4,6 Millionen zurück, der Trend hält auch in diesem Jahr an. Die Wartezeit für Routineeingriffe wie Mandel- oder Gelenkoperationen ist in die Höhe geschnellt, auf eine künstliche Hüfte warten stark schmerzgeplagte Patienten bis zu zwei Jahre. Onkologen erwarten eine Welle von Krebserkrankungen im fortgeschrittenen Stadium, weil viele Patienten dringend notwendige Vorsorgeuntersuchungen aus Angst vor Covid-19 absagten.

Der Premierminister indes "sagt sehr wenig und agiert, als sei jemand anderer verantwortlich", analysiert das eigentlich Johnson-treue Magazin "Spectator" (Ex-Chefredakteur: B. Johnson). "Die Regierung vermeidet eine Debatte und wälzt die Schmutzarbeit auf den Privatsektor ab." (Sebastian Borger aus London, 17.7.2021)