In Durban errichtete eine Gruppe auffällig gut organisierter Plünderer Barrikaden auf den Straßen.

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Gewöhnlich, sagt Pat Mamabolo, werde er wenigstens angehört. Der 53-jährige Südafrikaner bezeichnet sich als "community leader": Er kandidiert für den Stadtrat von Diepkloof, einem der aufgeräumtesten Stadtteile des Johannesburger Mega-Townships Soweto. Doch als Mamabolo am vergangenen Montagmorgen die Menschenmenge vor dem Einkaufszentrum Diepkloof Corner mit seinem Megafon zur Besinnung rufen wollte, hörte ihm keiner der mehr als 1.000 exaltierten Menschen zu: "Sie schubsten mich zur Seite. Ich fiel zu Boden und wurde beinahe totgetrampelt."

Als so auch das letzte Hindernis beseitigt war, brachen junge Männer die Glastüren des Pick’n-Pay-Supermarktes auf, anschließend zogen die Plünderer zur Fleischhauerei Roots weiter: Beide Geschäfte sehen heute wie Regallager nach einem Erdbeben aus. Über 24 Stunden habe sich der Mob von einem Laden zum nächsten vorgearbeitet, erzählt Mamabolo: Hin und wieder seien auch Polizisten aufgetaucht, die sich angesichts ihrer Unterlegenheit stets gleich wieder verzogen hätten. "Ich habe in meinem Leben schon vieles erlebt", sagt der Kandidat der oppositionellen Demokratischen Allianz: "Aber das war der Tiefpunkt."

210 Tote, über 2.000 Verhaftungen

Diepkloof Corner ist eines von mehr als 200 südafrikanischen Einkaufszentren, die im Verlauf dieser Woche von Plünderern leergeräumt wurden: Wenigstens zündeten sie die Mall nicht gleich auch noch an – wie das vor allem im Epizentrum des Bebens, der Provinz KwaZulu/Natal (KZN), oft der Fall war. Fernsehzuschauer konnten dort live mitansehen, wie eine Mall nach der anderen in Flammen aufging: Erst Tage nach dem Ausbruch des Tsunami tauchten auf den Bildern auch mal Polizisten, später vereinzelt Soldaten auf.

Die vorläufige Bilanz der Flut der Zerstörung: mehr als 210 Tote, über 2.000 Verhaftete, Sachschaden in Milliardenhöhe. In der Hafenstadt Durban bilden sich vor den letzten noch nicht zerstörten Geschäften Hunderte von Metern lange Menschenschlangen, der Brotpreis ist in die Höhe geschossen. Seit einer Woche ist Durbans Hafen geschlossen, die Autobahn nach Johannesburg war bis Freitag gesperrt, Lastwagen verkehren längst nicht mehr, eine Versorgungskrise bahnt sich an. Weil der Welle der Zerstörung außer Schulen, Mobilfunktürmen, einer Erdölraffinerie und Wasseraufbereitungsanlagen sogar die Distributionszentren der Apotheken zum Opfer fielen, müssen sich Millionen chronisch Kranke Sorgen um Medikamente machen. Das Covid-Impfprogramm ist ausgesetzt.

Obwohl er nur wenige Hundert Meter vom Diepkloof Corner entfernt wohne, habe er keinen in der Menschenmenge gekannt, erzählt Pat Mamabolo: "Da waren andere involviert", meint der Stadtratskandidat und zeigt in die Richtung einer heruntergekommenen Barackensiedlung, in der Wanderarbeiter aus der KZN-Provinz leben. "Schauen Sie sich eine Karte der Schwerpunkte der Ausschreitungen an: Sie stimmen alle mit den Wohngebieten der Zulu überein."

Korruptionsvorwürfe

Keiner zweifelt daran, dass die schlimmsten Ausschreitungen in der Geschichte der südafrikanischen Demokratie mit der Verhaftung des Ex-Präsidenten Jacob Zuma in Verbindung stehen – eines Zulu. Zuma werden zahlreiche Korruptionsvergehen vorgeworfen, bisher konnte er sich der Verfolgung entziehen. Nun nicht mehr. Schon vor Zumas Haftantritt hatten dessen Anhänger mit Unruhen gedroht: Dass sie dermaßen verhängnisvoll ausfielen, hat zweifellos auch mit der von Zumas räuberischer Herrschaft ausgelösten Wirtschaftskrise – und der zunehmenden Verzweiflung in dem derzeit von der dritten Covid-Welle heimgesuchten Staat – zu tun.

Rund 50 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos, unter Jugendlichen sollen es sogar 75 Prozent sein. Spätestens seit die Regierung Ende April die Covid-Stütze einstellte, grassiert in vielen Haushalten der Hunger. Da läuft keiner an einer bereits aufgebrochenen Tür zum Supermarkt vorbei.

Dennoch bleibt die ethnische Dimension. In der KZN-Provinz fand schon vor der demokratischen Wende des Landes ein Bürgerkrieg zwischen Anhängern des ANC und der Inkatha-Partei, der traditionellen politischen Heimat vieler Zulu, statt – ihm fielen weit über 20.000 Menschen zum Opfer. Hier befänden sich die Wurzeln des von Zuma später errichteten "Mafia-Staats", sagt Politologe Richard Pithouse: "Hier unterhält er auch seine Verbindungen zur kriminellen Unterwelt." Er konnte sich die Loyalität vieler Wanderarbeiter später sichern – weil er Pfründe vergeben konnte.

Achillesferse der Regenbogennation

Für den KZN-Kenner sind die gegenwärtigen Ausschreitungen in drei Phasen aufzuteilen. Zunächst hätten Zumas Anhänger einzelne Anschläge auf Lastwagen oder Einkaufszentren ausgeübt. Dann sei die Welle von einer eher unpolitischen, aber zutiefst frustrierten Bevölkerung zum Tsunami aufgepeitscht worden. Doch die größten Sorgen bereiten dem Politologen die Anschläge auf Mobilfunktürme, den Pharmavertrieb und die öffentliche Infrastruktur – das deute auf planvolles, politisches Vorgehen hin.

Die Regierung geht inzwischen von einer Verschwörung aus. Es gebe Anzeichen dafür, dass die Unruhen geplant worden seien, sagte Präsident Cyril Ramaphosa am Freitag. Einer der zwölf Anstifter, von denen Polizeiminister Bheki Cele bereits Mitte dieser Woche sprach, soll bereits festgenommen worden sein. Dass es sich um eine derart kleine Zahl an Unruhestiftern handelt, halten Fachleute für unwahrscheinlich: Allein das zögerliche Eingreifen der Polizei zeige, dass Zumas Handlanger wesentlich zahlreicher seien.

Kommentatoren sehen die Stunde der Wahrheit gekommen: Werde das Netzwerk Zumas jetzt nicht zerschlagen, könne Nelson Mandelas Verfassungsstaat zu einer mafiösen Republik verkommen, heißt es. Schon kommt es in KZN auch zu Zusammenstößen zwischen Südafrikanern indischer und afrikanischer Abstammung: Die Achillesferse der Regenbogennation liegt blank. (Johannes Dieterich aus Johannesburg, 17.7.2021)