Nach der großen Flut ist es im Zentrum von Verviers sehr still. Nur wenige Menschen stapfen durch die verschlammten Straßen im Zentrum. Da und dort liegen riesige Haufen von Pflastersteinen, die ausgeschwemmt wurden. Dazwischen Autowracks, Bäume, Fenster. Die meisten Leute sind nicht von hier, wohnen in anderen – höher gelegenen – Teilen der Stadt.

Sie wollen sehen, was das Hochwasser in der Stadt im Osten Belgiens seit der Nacht auf Donnerstag angerichtet hat. Schweigsam schauen sie auf das, was früher belebte Einkaufsstraßen waren, mit Läden, Supermärkten, Cafés, Restaurants, Parks. Nun steht das Leben still.

Einkaufsstraße im Zentrum von Verviers. Hunderte Geschäfte, Cafés, Restaurants, Friseurläden, Büros wurden meterhoch überflutet, als die Weser über die Ufer trat. In den meisten Läden Totalschaden.
Thomas Mayer

"Es ist schlimm", sagt eine Frau, "und es ging alles so schnell." Sie schaut auf eine Familie – Vater, Mutter, drei Kinder – die einen riesigen Haufen mit nassen Schachteln, Kleidungsstücken und sonstigem Kram vor ihrem Geschäft aussortieren – besser gesagt: dem, was nun von dem Geschäft übrig ist. Der Mann reinigt mit einem Wasserschlauch die Kleider, die Frauen wringen sie aus. Es wirkt absurd. Wer soll das kaufen? Und wo?

Die Schäden sind enorm im Zentrum der Stadt, die rund 55.000 Einwohner zählt. Hunderte Häuser standen hier noch am Donnerstag bis zu zwei Meter hoch unter Wasser, als die Weser über die Ufer getreten war. Vier Menschen fanden hier den Tod – im Osten Belgiens sind es mittlerweile bereits 27, in der gesamten Unwetterregion deutlich über 100.

Geruch der Katastrophe

Man kann die Katastrophe nicht nur sehen – man kann sie vor allem riechen. An der Brücke über die Weser, gleich neben der Kirche Notre Dame des Récollets, stehen ein paar junge Leute. Sie schauen auf den fast friedlichen Fluss, der vor zwei Tagen so teuflisch zugeschlagen hatte.

Aber der Schein trügt, es stinkt wie die Pest: nach Benzin. Das dürfte eine der Spätfolgen der Flut nicht nur hier sein. Überall wurden Tankstellen, Ölkessel in den Kellern unterspült, der Treibstoff gelangte ins Trinkwasser, das ungenießbar ist. Die Kanalsysteme funktionieren nicht mehr richtig. Wasser- und Stromleitungen wurden ausgespült.

Was in dieser Region jahrhundertelang den Reiz von Städten ausmachte, ihre Lage am Wasser, wird mit dem Klimawandel nun offenbar zur Bürde, zum Risiko – nicht am Meer, sondern hunderte Kilometer landeinwärts vom Ärmelkanal.

Das Zentrum von Verviers – ein Autofriedhof.
Thomas Mayer

Verviers ist sehr hügelig. Die Wohnviertel weiter oben blieben weitgehend verschont, aber das Zentrum wurde vom Wasser gleichsam erdrückt. Es kam aus dem Fluss Weser, der um mehrere Meter anstieg, und schoss bei Starkregen von den Höhenlagen gleichzeitig in diese tiefsten Lagen herunter.

Das ist eine fatale Kombination, die in diesen Tagen die Flutkatastrophen in einem riesigen Gebiet ausmachen – im Westen Deutschlands, in Belgien, in den Niederlanden, in Luxemburg, bis weit hinunter in die Schweiz. Hier lag die berüchtigte Tiefdruckwelle seit zwei Wochen.

Wenn Bäche zu reißenden Fluten werden

Die romantisch von Fachwerkhäusern gesäumten Bäche und kleinen Flüsse in den Dörfern, Weilern und Städtchen wurden binnen Minuten zu reißenden Fluten. Deshalb hat es die Eifel im Südwesten von Nordrhein-Westfalen so schlimm erwischt – und auch die Ardennen in Belgien. Von dort strömte das Wasser weiter, u.a. nach Ahrweiler und Schuld.

Die Bilder von dort haben ganz Deutschland schockiert. Bis Samstag breitete sich das Wasser weiter aus – erst über die Flüsse, dann in den regionalen Hauptfluss, den Rhein. Ein unabwendbares Naturgesetz: Wasser bannt sich den Weg überall hin, am Ende mit ungeheurer Wucht.

In der Nacht auf Samstag war Erftstadt dran, knapp südwestlich von Köln gelegen. Teile der Stadt mussten evakuiert werden, als Wohnhäuser einstürzten. Samstagfrüh wurde Ophhoven im Kreis Heinsberg evakuiert.

Die Weser hat sich scheinbar wieder beruhigt. Aber es stinkt rundum sehr stark nach Benzin und Diesel.
Thomas Mayer

Die Opferbilanz Samstagfrüh war erschreckend: Mindestens 143 Tote, hunderte Vermisste allein in Deutschland. Das übersteigt die Folgen aus dem großen Hochwasser im Jahr 2002 an der Elbe bei weitem. 48 Stunden nach dem ersten Hochwasseralarm war in Deutschland klar: Das ist eine nationale Katastrophe, die zahlreiche Menschen in ihrem Leben lange Zeit beschäftigen wird. Die Kosten werden in die Milliarden gehen. Große Teile der Infrastruktur müssen erneuert werden, tausende Häuser saniert. Und das mitten in den deutschen Wahlkampf um die Kanzlerschaft hinein.

Corona? Kein Thema mehr

Das Coronavirus und die steigenden Infektionszahlen wegen der Delta-Mutation? Kein Thema mehr. Fast niemand der Betroffenen und der Helfer im paneuropäischen Katastrophengebiet trägt Masken. Die Menschen haben nun andere Sorgen.

In Lüttich, der Stahlstadt mit 200.000 Einwohnern westlich von Aachen, konnte Samstag Entwarnung gegeben werden: Die Dämme der Maas haben gehalten. Aber umso größer wurde die Not von Stunde zu Stunde flussabwärts, in Maastricht, in den ab der deutschen Grenze immer flacher werdenden Landschaften der Niederlande. Dort sind die Wassermassen naturgemäß viel größer als in den Gebieten, aus denen die Zuflüsse kommen.

Rund um Köln, 60 Kilometer von Aachen entfernt, mussten Autobahnen wegen Überflutung gesperrt werden, nach der A61 Richtung Bonn auch die A1. Überall gab es Probleme, weil Gas-, Strom- oder Telefonleitungen, Relaisstationen, Wasserwerke zerstört oder gestört waren.

Steinweg im Zentrum von Stolberg bei Aachen, die Straße heißt wirklich so, es ist hier der Beginn der zerstörten Fußgängerzone.
Thomas Mayer

Beruhigte Lage in Verviers

In Verviers ist davon am Samstag nichts mehr zu spüren. Hier herrscht im wahrsten Sinne der Redewendung Ruhe nach dem Sturm. Zur Grenze rüber nach Aachen sind es nur etwa 30 Kilometer. Südöstlich von dieser Europastadt liegt Stolberg, eine seit dem Mittelalter wegen des Kupfers reiche Kleinstadt, mit einem malerischen Stadtkern. Er wurde komplett geflutet.

Die Bewohner im Zentrum wurden in Sicherheit gebracht, nicht nur, weil Wasser und Strom abgeschaltet werden mussten. Sondern vor allem, weil Fundamente zu brechen drohen, Einsturzgefahr besteht. Die Häuser entlang der Fußgängerzone Steinweg sind teils Jahrhunderte alt. Einige Ladenbesitzer lassen sich dennoch nicht davon abhalten, ihre Häuser vom kaputten Hausrat zu räumen, mit dem Saubermachen zu beginnen. "Wir müssen nach vorne schauen", sagt eine Studentin, "es muss weitergehen". Sie sei gekommen, um ihren Freunden zu helfen. Sie wirkt erstaunlich optimistisch.

Die Folgen der Fluten in Stolberg.
Thomas Mayer

Plötzlich fährt ein Feuerwehrauto durch, ein Mann macht über Lautsprecher eine Ansage: Alle Bewohner, die noch in ihren Häusern geblieben seien, seien herzlich eingeladen, in Notquartiere zu kommen, wo es alles Notwendige gebe: Schlafplätze, Essen, Trinken, Kinderbetreuung, Kleidung. Das ist ein sichtbarer Unterschied zum benachbarten Belgien, wo die Behörden wegen mangelnder Hilfe bereits in der Kritik stehen. Deutschland hat offenbar nicht umsonst den Ruf, ein gut organisiertes Land zu sein.

Gelebte Hilfsbereitschaft

Und ein Land der Hilfsbereitschaft, wie es scheint. Der Wirt des Weißen Rössl in Stolberg etwa hat auf der Burgstraße einen kleinen Gastgarten, nur rund hundert Meter von der Katastrophenzone entfernt. Er wurde von der Flut des Vichtbaches durch den Stadtkern knapp verschont. Freitagabend wurde hier zum Trotz aufgekocht und ausgeschenkt. Es gibt Würstchen und Bier für die Anwohner, gratis. Der Wirt hat extra ein dieselbetriebenes Notstromaggregat besorgt, um der Krise zu trotzen. An den Tischen geht es fast fröhlich zu.

"Es muss ja weitergehen", sagt ein Nachbar, der in der schmalen Gasse wohnt. Stolz erzählt er die Geschichte von Stolberg, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht. Hier wurde seit jeher Kupfer bearbeitet, weil die Menschen in früheren Jahrhunderten alles vorfanden, was man dafür braucht: Erz, Holz aus dem waldreichen Gebiet – und Wasser, den Vichtbach.

Der Vichtbach hat sich wieder beruhigt.
Thomas Mayer

Dass dieser zu einem reißenden Fluss wurde und das Stadtzentrum verwüstete, das habe es seit Menschengedenken nicht gegeben, erzählt er. Jetzt werde man sich wohl etwas besonderes einfallen lassen müssen, eine großräumige Absicherung gegen Überflutung. Wie das in diesem engen Raum gehen soll, das weiß hier freilich keiner, von den Kosten einmal ganz abgesehen. Aber das gilt auch in Eschweiler, in Köln, in Maastricht, in Lüttich, in Verviers, in Bad Münstereifel, in Schuld – überall, wo man sich in diesen Tagen im Katastrophengebiet umhört.

Pedro Mendes aus Eschweiler, zwischen Aachen und Köln, das vom überquellenden Fluss in einigen Wohngebieten schwer beschädigt wurde, sagt, worauf es jetzt vor allem ankommt. Er arbeitet in Aachen: "Ich muss nach dem Dienst schnell nach Hause, um meinen Freunden beim Aufräumen zu helfen."

"Jeder packt an"

So machten das viele in seiner Stadt, nicht nur die Feuerwehren, das Technische Hilfswerk, die Bundeswehr. Eine besondere Rolle spiele in Eschweiler der Karnevalsverein, sagt Mendes, dem er auch angehöre: als eines von 7.000 Mitgliedern. Die seien jetzt alle zum Helfen aufgerufen, "jeder packt an". "Das Leben muss ja weitergehen", hört man immer wieder in Eupen in Belgien, und auch Maastricht in den Niederlanden, über die Staatsgrenzen hinweg.

Es klingt, als redeten die Menschen über gemeinsamen europäischen Klimaschutz, noch bevor es ihn wirklich gibt. (Thomas Mayer aus der Europaregion Aachen, 17.7.2021)