"Titane" von Julia Ducournau gewann in Cannes.

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Die Freude bei Regisseurin Julia Ducournau war groß. Sie drückt Schauspieler Vincent Lindon.

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Ein zweiter "Envelopegate" wie beim Oscar von 2017 war es zwar nicht, aber die Spannung hielt bei der Preisverleihung von Cannes am Samstagabend nicht allzu lang. Denn der offenbar vom Sprachengemisch verwirrte Jury-Präsident Spike Lee verriet bereits ganz zu Beginn im Grand Théâtre Lumière, dass die Goldene Palme an Titane geht.

Julia Ducournaus genreüberschreitender Film hatte zu den aufregendsten des Wettbewerbs gezählt: Er riskiert visuell und erzählerisch etwas und überschreitet Sehgewohnheiten, auch wenn man sich im Genrekino zuhause fühlt. Nicht Sex in, sondern mit einem Auto; eine Frau, aus deren Körperöffnungen Motoröl tropft; ein Essstäbchen, sehr, sehr tief im Ohr eines Mannes – solche Bilder haken sich im Gedächtnis fest.

Mit seiner Geschichte um die genderfluide Alexia, intensiv verkörpert von der nichtbinären Schauspielerin Agathe Rousselle, die sich vom menschenmordenden Gewaltberserker zur widerborstigen Wunschvorstellung eines Feuerwehrmannes (Vincent Lindon) verwandelt, ist Ducournaus Film auf verquere Art auf der Höhe der Zeit. Er verfügt nicht nur über eine Heldin, die alle Geschlechtereinteilungen aufhebt – sie trägt ja auch das Kind eines Autos aus -, sondern erschafft einen neuen Menschen, eine posthumane Maschinenfrau, die jedoch noch Defekte und Traumata der alten Welt mit sich herumschleppt.


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Damit also ist in Cannes endlich der Bann gebrochen: Die 37-jährige Französin Ducournau, die ihre Liebe zum Horror- und fantastischen Kino mit einem Schuss Theorie à la Paul Preciado verbindet, ist 28 Jahre nach Jane Campion die insgesamt erst zweite Regisseurin, die die Palme bekommt. Die Entscheidung ist ein Signal der Öffnung, der Inklusion, sogar noch über die Frauenfrage hinaus – Ducournau sprach es selbst in ihrer Dankesrede an. Für ein Festival, das sich nach der Pandemiepause, einer Wiedergeburt des Kinos verschrieben hat, ist ein Film über eine transhumane Leihmutter auf jeden Fall ein ziemlich fortschrittliches Zeichen.

Auch mit ihren weiteren Entscheidungen hat die achtköpfigen Jury, zu der auch Regisseurin Jessica Hausner gehörte, Geschmack bewiesen. Ryochi Hamaguchis Drive My Car, einem der inszenatorisch souveränsten Filme dieses Jahrgangs, hätte man allerdings mehr als den Drehbuchpreis gewünscht. In drei Stunden bereitet der Japaner in seiner tiefgründig-existenzialistischen Haruki-Murakami-Adaption seine Erzählung über einen Theatermacher aus. Die Rollen der Figuren im Leben und bei der Arbeit an Tschechows Onkel Wanja verschieben und kommentieren sich darin ständig. Hamaguchi übersetzt seine Beziehungsstudie, in der sich immer mehr Abgründe auftun, mit höchster Eleganz in einen ruhigen, aber nie monotonen Fluss der Bilder.

Machtdemonstration

Besonders erfreulich ist der Regiepreis an den Franzosen Leos Carax, einem der stilistischen Exzentriker des Kinos – eine Rolle, die er mit seinem Art-Pop-Musical Annette wieder einzulösen wusste. Der durch seine widerstreitenden Tonlagen verblüffende Eröffnungsfilm wirkte das ganze Festival hindurch im Kopf weiter. Ansonsten erwies sich die Jury in bester Spendierlaune.

Gleich zwei Preiskategorien wurden gesplittet: Damit bildete man indirekt auch die Überfülle des diesjährigen Festivalprogramms ab. Cannes-Präsident Thierry Frémaux konnte für sein Festival nach einem Jahr Pause einfach nicht genug Filme bekommen. Das glich einer etwas eitlen Machtdemonstration, mit der man gerade den filigraneren Arbeiten am Rande keinen Gefallen tat – sie wären im Wettbewerb anderer Festivals besser aufgehoben gewesen.

Preis an Sebastian Meise

Der Grand Prix ging an den Iraner Asghar Farhadi für A Hero, sein verschachteltes, aber auch etwas zu routiniertes Drama um einen Mann, der sich von Schulden befreien will, und an Compartment No. 6 von Juho Kuosmanen. Mit viel Gespür für Zwischentöne und gut dosiertem Witz erzählt der Finne von der Reise einer jungen Frau mit der transsibirischen Eisenbahn, bei der sie auf einen Russen trifft, der nur auf den ersten Blick wie ein Rohling erscheint.

Spezialpreise erhielten Apichatpong Weerasethakul für Memoria und der Israeli Nadav Lapid für Ahed’s Knee, einer harschen Kritik am Militarismus und der Verbohrtheit seines Landes. Einen schönen Erfolg gab es auch für das österreichische Kino. Sebastian Meises Große Freiheit, ein Gefängnisdrama über Leiden und Liebe eines homosexuellen Mannes, gewann den Jury-Preis der Sektion Un certain regard. (Dominik Kamalzadeh, 18.7.2021)